Urs Tillmanns, 14. November 2021, 11:15 Uhr

Kostas Maros: «Cicatrice» – und das weisse Gold

Cicatrice

Es ist ein magischer Berg. Ein steinerner Riese, dessen lange und mächtige Glieder sich dort gleich einem Kruzifix über die karge Landschaft erstrecken. Eingepfercht zwischen Apennin und Mittelmeer, im Nordwesten der Toskana, kurz bevor er Ligurien durchquert. Die Bergkette erhebt sich bis auf 2000 Meter und trägt erhabene silberne Haare. Die Apuanischen Alpen bergen eines der grössten Marmorvorkommen der Welt. Seit der Antike wird hier Marmor abgebaut. Einst mit einfachsten, heute mit modernsten Mitteln der Technik ringt der Mensch dem Berg seine wertvollen Schätze ab. Schon Renaissancekünstler wie Michelangelo schufen zeitlose Werke aus dem weissen Stein.

Der Vogelblick auf die Marmorbrüche von Carrara offenbart tiefe Spalten, Plätze, Strassen aus Marmor, die sich in beissendem Weiss von ihrem natürlichen Hintergrund abheben. Es ist ein gewaltiges Schauspiel, dass dem Betrachter natürlichen Respekt vor den mächtigen Felsen abverlangt. Die Öffnung des Berges durch den menschlichen Eingriff in das Gestein, die einen Einblick auf diese imposanten, geometrischen Steinkulissen ermöglicht, enthüllt instinktiv eine visuelle Anziehungskraft, die sämtliche Betrachter in ihren Bann zieht. Marmor – kein Edelstein, aber zweifelsohne das edelste aller Gesteine.

 

Doch nur der feinste, reinste und schneeweisse trägt das besondere Gütesiegel: Carrara-Marmor. «Weisses Gold», wie die Bewohner von Carrara den kostbaren Stein nennen, der ihnen seit jeher Einkommen und Arbeit garantiert. Der Schatz der Apuanischen Alpen wurde und wird in die ganze Welt exportiert.

 

Jedoch zeichnen sich heute tiefe Wunden in den weissen Bergen um die Industriestadt Carrara ab. Der Raubbau hat zeitlose Narben hinterlassen. Täler sind zerklüftet und Höhenzüge zerschnitten, eine lebensfeindliche und eigenartige Mondlandschaft in der sonst so lieblichen Toskana. Die Fotografien der majestätischen Steinbrüche zeigen eine isolierte Welt; ästhetisch, bizarr und rau. Es ist ein in sich geschlossenes Universum aus Weiss, artifiziell und natürlich zugleich. In der Provinz Massa-Carrara manifestieren sich die Auswüchse industriellen Fortschritts und globaler Gier nach Luxus in unvergleichlicher Weise plastisch.

 

Die Umweltschützer sorgen sich um die Folgen der Ausbeutung. Der Marmorstaub dringt tief ins Grundwasser, färbt die Flüsse milchweiss und durchdringt die Luft. Carrara hat allein im letzten Jahrzehnt vier schwere Überschwemmungen erlebt – Naturschützer führen sie auch auf den extensiven Marmorabbau zurück, der das hydrogeologische Gleichgewicht stört.

 

Der Marmorabbau in den Steinbrüchen von Carrara ist eine Metapher für den global übermässigen Eingriff der Menschen in die Natur: Automatisierung, Verknappung der Ressourcen, Konzentration des Reichtums sowie der Konflikt zwischen Umwelt und Produktion. Seine Narben werden bleiben, auch dann, wenn der Mensch die von ihm geschaffene Landschaft in der Toskana wieder verlassen hat: In den Steinbrüchen von Carrara geht der Marmor aus. Der berühmte Stein aus Carrara reicht laut Geologen noch für 50 Jahre.

Text und Bilder: Kostas Maros

Hinweis: Noch bis 18. Dezember 2021 sind die Bilder von Kostas Maros in der Galerie space25, Rebgasse 25, CH-Basel zu sehen.
(Öffnungszeiten Mi-Fr 15:00-18:30, Sa 12:00-16:00)

 

Kostas Maros

Der Fotograf Kostas Maros (*1980) absolvierte an der Universität eine juristische Ausbildung und arbeitete einige Jahre im juristischen Berufsfeld, bevor er 2013 autodidaktisch zur Fotografie wechselte. Seither ist er in der Schweiz und im Ausland für Editorial-, Corporate und Werbekunden tätig. Darüber hinaus setzt er Reportage- und Kunstprojekte um. Für seine Auftragsarbeiten wird er von der Agentur 13photo vertreten, für seine künstlerischen Arbeiten von der Galerie Monika Wertheimer und der Galerie94. Kostas Maros wurde unter anderem am Prix de la Photographie Paris, vfg Nachwuchsförderpreis und Swiss Press Award ausgezeichnet. https://kostasmaros.com

 

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