Urs Tillmanns, 21. Januar 2022, 16:00 Uhr

Kameramuseum Vevey: Die Uhrenindustrie im Dienst der Fotografie

Die Fotografie und die Uhrmacherei sind zentrale Techniken der westlichen Moderne und beruhen beide auf der genauen Beherrschung der Zeit. Sowohl wörtlich als auch symbolisch fassen sie die Zeit in ein Gehäuse. Ihre Nähe ist so gross, dass Roland Barthes von der Fotografie als einer «Uhr zum Sehen» sprach. Dennoch wurden ihre engen Verbindungen bislang erstaunlich wenig beachtet.

In der Zwischenkriegszeit, angesichts der Wirtschaftskrisen, fand das Know-how der Schweizer Uhrindustrie eine Diversifizierung in der Herstellung von Kameras. Zwar unterscheidet sich die Fotografie mit ihrer Optik und Chemie von der Uhrmacherei, doch haben beide die hohe feinmechanische Präzision mit ihren Rädern, Federn, Hebeln und Zählern als gemeinsame Basis. Mit der steigenden Nachfrage nach Fotoapparaten beginnen zahlreiche Unternehmen vom Vallée de Joux bis in den Aargau mit der Herstellung von hochwertigen Kameras.

Blick in die Ausstellung im Schweizer Kameramuseum, Vevey, die noch bis 21. August 2022 dauert

LeCoultre bietet 1937 die «Compass» an, ein Meisterwerk der Miniaturtechnologie mit zahlreichen Funktionen. Die Alpa der Pignons SA (1944) war in der Nachkriegszeit ein grosser internationaler Erfolg, der vom Slogan «Die Kamera der Schweizer Uhrmacher» getragen wurde. Die Taubenkamera Michel (1937) ist der Vorläufer der Drohnenkamera: Sie ermöglicht Luftaufnahmen in geringer Höhe, die für militärische Aufklärungsmissionen bestimmt sind. Die Tessina von Siegrist in Grenchen ist 1960 so kompakt, dass sie wie eine Uhr am Handgelenk getragen werden kann; sie ist eines der Fetischgeräte für die Spionage im Kalten Krieg. Die Fotofinish wird in der Nachkriegszeit von Omega, Longines und bald auch von Swiss Timing entwickelt. Das Fotofinish ist heute bei Sportwettkämpfen aktueller denn je und macht die Fotografie zu einer echten visuellen Uhr, die die Dehnung der Zeit bis in ihre kleinsten Dimensionen zeigt.

Die Ausstellung lädt zu dieser neuartigen Erkundung ein und wird von einer umfangreichen Publikation des Verlags Editions Infolio begleitet, die Ende Februar 2022 erscheinen wird. Die Publikation enthält Fallstudien, thematische Essays und eine Vertiefung der Beziehungen zwischen Fotografie und Uhrmacherei. Ausstellung und Publikation sind das Ergebnis eines Forschungsprojekts, das in enger Partnerschaft mit der Universität Lausanne durchgeführt wurde.

 

Uhr und Kamera – zwei Maschinen zur Erhaltung der Zeit

Seit fast zwei Jahrhunderten verkündet die fotografische Theorie: Die Fotografie ist eine Kunst der Zeit. Dennoch wurde erstaunlich wenig über die enge Verbindung nachgedacht, die sie mit der jahrhundertealten Kunst der Zeitmessung, der Uhrmacherei, eingeht. Wie die Uhr definiert sich nämlich auch die Kamera als «Zeiterhaltungsmaschine», und wie diese beruht ihre Funktionsweise auf der feinen Beherrschung der Aufteilung des Zeitablaufs.

Mit der Verkürzung der Belichtungszeiten wurde die Fotografie, die lange Zeit als Produkt der Optik und Chemie definiert wurde, ab dem Ende des 19. Jahrhunderts und dem Aufkommen von Verschlüssen zu einer hochgradig mechanisierten Technik mit vielen Zahnrädern, Federn, Hebeln, Zählern und Zeitschaltuhren. Dies führte dazu, dass immer mehr Unternehmen, die sich auf Präzisionsmechanik spezialisiert hatten, mit der Herstellung von einzelnen Komponenten oder der ganzen Kamera beauftragt wurden. Dies gilt insbesondere für die Schweiz, die im 20. Jahrhundert das Zentrum der weltweiten Uhrenindustrie war, wo die Fotografie angesichts der Krisen in der Zwischenkriegszeit ein bevorzugtes Feld für die Diversifizierung des uhrmacherischen Know-hows darstellte. Bereits im 18. Jahrhundert hatten Automaten und Spieldosen die Mechanik der Uhrmacherei in den Dienst der automatisierten Bild- und Tonproduktion gestellt, und im 20. Jahrhundert setzten mehrere Schweizer Unternehmen diese Tradition fort, indem sie sich der Herstellung von Kameras, Plattenspielern und Aufnahmegeräten zuwandten. Eine Reihe von ihnen entschied sich vor allem für die Entwicklung einer bemerkenswerten Serie hochwertiger Fotoapparate, die von den 1930er bis zu den 1960er Jahren entwickelt wurden und den Austausch zwischen den beiden Bereichen in vielfältiger Weise prägen sollten.

(Luc Debraine und Olivier Lugon; Auszug aus der Einleitung zum Katalog «Photographie et horlogerie», der Ende Februar 2022 im Infolio-Verlag erscheinen wird).

 

Fotografie und Uhrmacherei – einige Highlights

Die Compass, «gebaut wie eine Uhr»

Die Compass-Kamera wurde in der Zwischenkriegszeit vom britischen Erfinder Noel Pemberton-Billing entworfen und trägt den Slogan «Built like a watch». Mit seiner Herstellung wurde die Manufaktur LeCoultre & Cie, heute Jaeger-LeCoultre, beauftragt. Die Kamera aus Aluminium, die so gross wie eine Zigarettenschachtel ist, ist ein technisches Wunderwerk. Ausgestattet mit einem 35-mm-Objektiv und einem Entfernungsmesser zum Scharfstellen, nimmt der Compass 24 x 36-Glasplatten auf, später dann mit einem Adapter für Rollfilme für sechs Belichtungen, die von Ilford in Grossbritannien hergestellt wurden. Sie verfügt über eingebaute Filter, einen Belichtungsmesser, zwei Sucher (einer davon rechtwinklig), eine Mattscheibe, eine Wasserwaage sowie Vorrichtungen für Panorama- und Stereoaufnahmen. Die inneren Bewegungen sind von unvergleichlicher Präzision, ebenso wie die sorgfältige Verarbeitung des Geräts und die Genfer Streifen, die auch bei den Uhrwerken von LeCoultre zu finden sind. Die Werbung für die Compass profitierte vom Know-how der Lausanner Agentur Trio, einem Partner der Manufaktur in Le Sentier. Die Compass wurde ab 1937 verkauft, sein Schicksal endete jedoch mit dem Zweiten Weltkrieg. Insgesamt wurden weniger als 5000 Exemplare produziert. Heute ist sie bei Sammlern sehr begehrt. (siehe auch Bericht von 2009)

 

Alpa, «die Kamera der Schweizer Uhrmacher».

Eine Alpa 6b auf ihrem Verkaufsdisplay (Foto J.C. Roy). Daneben Dwight D. Eisenhower, Präsident der Vereinigten Staaten, mit einer Alpa 7 in der Hand (ca 1955)

Der Erfinder Jacques Bogopolsky, der auch für die Bolex-Kameras verantwortlich war, bot in den 1930er Jahren der Uhrenfirma Pignons SA in Ballaigues im Waadtländer Jura eine 35-mm-Kamera an. Die Kamera weist die Besonderheit auf, dass sie sowohl ein telemetrisches als auch ein Spiegelreflexvisier besitzt. Pignons überarbeitete die gesamte Konstruktion des Gehäuses und brachte die Kamera 1944 unter dem Namen Alpa auf den Markt. Ein raffinierter Prismensucher wird ab 1949 angeboten. In den 1950er Jahren, dem Höhepunkt der Waadtländer Marke, montierten rund 60 Mitarbeiter bis zu 200 Kameras pro Monat. Die Alpa-Werbung nutzt die Aura der technischen Präzision und Zuverlässigkeit der Schweiz sowie die Herstellung durch Uhrenspezialisten. Der Slogan «Die Kamera der Schweizer Uhrmacher» drängt sich förmlich auf. Auch die luxuriöse Positionierung der Marke ist ein Vorteil. In den 1960er Jahren litt Alpa unter der japanischen Konkurrenz, bevor sie Mühe hatte, auf die Einführung von Elektronik in Kameras zu reagieren. Die Marke versuchte, ihre Produkte zu diversifizieren (Medizin, Reproduktion, Makrofotografie, Unterwasser- und Panoramafotografie), konnte aber 1990 den Konkurs nicht abwenden. Der Name Alpa wurde daraufhin von deutschsprachigen Unternehmern aufgekauft, die eine hochwertige Mittelformatkamera auf den Markt brachten.

 

Die Michel-Taubenkamera – Vorläuferin der Drohne 

1909 stellte der Deutsche Julius Neubronner eine selbstauslösende Kamera für Brieftauben vor. Das Gerät, das sowohl für Zivilisten als auch für die militärische Überwachung bestimmt war, verfügte über einen pneumatischen Selbstauslöser und zwei Objektive, die pro Flug zwei Bilder aufnahmen und bald durch ein einziges schwenkbares Objektiv ersetzt wurden. Das Gerät wird mit elastischen Riemen an der Brust des Vogels befestigt. Die deutsche Armee verzichtet auf den Einsatz der Kamera. 1936 patentierte der Aargauer Adrian Michel ein ähnliches Gerät, das ebenfalls einen militärischen Zweck erfüllte. Michel leitet eine Uhrenfirma in Walde. In einer schlechten Wirtschaftslage versucht er, seine Produktion zu diversifizieren. Dank seines Know-hows kann er einen mechanischen Selbstauslöser nach dem Vorbild der Uhrmacherei entwickeln, der über eine Feder, ein Räderwerk und eine Hemmung verfügt. Die 70 Gramm schwere Kamera kann wahlweise 6 bis 7 Fotos mit einem Intervall von 30 Sekunden oder 12 bis 15 Fotos mit einem Intervall von 15 Sekunden aufnehmen. Ein Mechanismus spannt den Verschluss wieder auf und sorgt dafür, dass das schwenkbare Objektiv in seine Ausgangsposition zurückkehrt. Michels Expertise in der Uhrmacherei ermöglicht es ihm, diese zahlreichen Elemente in einem kleinen Gehäuse unterzubringen. Die Schweizer Armee ist an der Erfindung für Tauben nicht interessiert. Die Produktion wird nach der Herstellung von etwa 100 Stück eingestellt. 

 

Tessina, im Dienst des Nachrichtendienstes

Anfang der 1950er Jahre entwickelte der deutsche Ingenieur Rudolf Steineck eine winzige Kamera, die sich mit einem Armband uhrenähnlich am Handgelenk tragen lässt. Finanzielle Enttäuschungen zwangen ihn, ins Tessin zu ziehen, wo er an einer 35-mm-Miniaturkamera arbeitete, die in eine Zigarettenschachtel passte. Da das Gehäuse aus 300 präzisen Kleinteilen bestand, beauftragte er die Uhrenfirma Siegrist in Grenchen mit der Herstellung und Montage. Die Tessina kam 1960 auf den Markt. Im Gegensatz zu seinem Miniaturkonkurrenten Minox verwendet das Gerät einen 35-mm-Standardfilm, den man selbst in einer speziellen Kassette aufwickeln kann. Ein Uhrwerk automatisiert den Transport des Films und das Spannen des Verschlusses. Die Tessina hat an ihrem Rand zwei Objektive, eines als Sucher, das andere zum Aufnehmen. Sie kann mit einer Reihe von Zubehörteilen ausgestattet werden, angefangen bei einem Armband, dann folgte ein Belichtungsmesser, eine Zielfernrohrlupe, ein Prisma zur Bildausrichtung und eine rechteckige Uhr mit 17 Rubinen. Die Tessina wird während des Kalten Krieges von den amerikanischen, sowjetischen und ostdeutschen Geheimdiensten häufig verwendet. Er ist einer der Protagonisten in Alfred Hitchcocks Film Topaz (Der Schraubstock). Er wird bei einem der Agenten gefunden, die für den Einbruch in die Demokratische Partei in Watergate verantwortlich waren, der Affäre, die den Sturz von US-Präsident Richard Nixon herbeiführte. Der Tessina wurde bis in die 1990er Jahre in einer Auflage von über 20’000 Stück produziert.

 

Photofinish, fotografischer Chronograph

Die Geschichte des Photofinish verkörpert die Konvergenz von Fotografie und Uhrmacherei, die hier mit dem Ziel vereint wurden, die Grenzen der Präzision bei der Zeitmessung zu erweitern. Mit immer kürzeren Verschlusszeiten übertraf die Fotografie die Fähigkeiten des menschlichen Auges kurze Bewegungen wahrzunehmen. So wurde die Fotografie bald eingesetzt, um bei Sportwettkämpfen, angefangen bei Pferderennen, eine Entscheidung zwischen den Teilnehmern zu treffen. Ab den 1940er Jahren boten Omega und Longines insbesondere für olympische Wettbewerbe Geräte an, die die Zeitmessung in die Bildaufnahme integrierten. Der Fotofinish ist eine kontinuierliche fotografische Aufzeichnung, die bei geöffnetem Verschluss der Kamera erstellt wird. Der Film läuft mit der gleichen Geschwindigkeit wie die sportlichen Teilnehmer an einem Schlitz vorbei, der auf die Ziellinie ausgerichtet ist.

Athletissima, Lausanne, 100 m Hürden, Fotofinish Omega Photosprint II, 1985

Das Ergebnis ist ein langer Filmstreifen, auf dem man den genauen Zeitpunkt erkennen kann, zu dem jeder Teilnehmer den ausgewählten Bereich passiert hat. Mit anderen Worten: Der Abstand zwischen zwei Wettkämpfern zeigt nicht eine Entfernung, sondern ein Zeitintervall. Das System soll objektiv, unparteiisch und so genau wie möglich sein. Die Kameras sind zunächst analog, sodass der Film vor der Übermittlung der Ergebnisse entwickelt werden muss. Dann verbessern Elektronik, Video und Digitaltechnik die Genauigkeit des Systems immer weiter. Omega und Longines gründeten 1972 die Firma Swiss Timing, die später in die Swatch Group integriert wurde. Heute kann eine Scan’O’Vision-Digitalkamera von Swiss Timing mit bis zu 10’000 Bildern pro Sekunde aufzeichnen, und zeigt unparteiisch, wie jeder Teilnehmer eine Ziellinie überquert.

Die Ausstellung «Fotografie und Uhrmacherei» ist im
Schweizer Kameramuseum, Grande Place, CH-1800 Vevey
noch bis 21. August 2022 zu sehen.

(Redigierter Pressetext. Sämtliche Fotos: © Kameramuseum Vevey)

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