Die Schweiz ist nicht gerade berühmt für ihre Kameraindustrie. Es gibt nur einige wenige bekannte Namen, die einem dabei in den Sinn kommen, wie «Alpa», «Tessina» und vielleicht noch «Compass» – dies wahrscheinlich auch nur, wenn man sich schon mit der Schweizer Fotogeschichte befasst hatte. Das Interessante der Entwicklungsgeschichte dieser Marken ist die Verbindung zur Uhrenindustrie. Diese suchte in Krisenzeiten nach Diversifikationen, und sie war mit ihren hoch präzisen Fertigungsmethoden und genialen Konstruktionen ein idealer Partner, um die Ideen genialer Erfinder in einzigartige und marktfähige Kameras umzusetzen. (In diesem Zusammenhang möchten wir nochmals auf die aktuelle und bis 21. August 2022 dauernde Ausstellung «Fotografie und Uhrmacherei» im Kameramuseum hinweisen, über die wir bereits berichtet haben.)
Das vorliegende Buch, das von Luc Debraine, dem Direktor des Schweizer Kameramuseums, und Olivier Lugon, Fotohistoriker der Universität Lausanne, herausgegeben und mit einem mehr als 20köpfigen Autorenteam realisiert wurde, deckt die interessante Verbindung von Zeitmessung und Fotografie ab. Für beide ist ein Hemmwerk wichtig, bei der Uhr, um diese zu messen und präzise anzuzeigen, bei der Fotografie, um mit dem Verschluss die Belichtungszeit in Tausendstelsekunden zu steuern.
Das Buch zeigt an einigen Beispielen, wie die Verbindungen der Kamerakonstrukteure und der Uhrenindustrie zu Stande kamen. Der englische Erfinder Noel Pemperton Billing (1881-1948) beispielsweise, der auch als Pilot, Publizist und Parlamentsmitglied bekannt war, entwarf eine äusserst komplizierte Kamera, für die er in England keinen Hersteller fand, so dass er diese bei der Schweizer Uhrenfirma Jaeger-LeCoultre im Neuenburger Jura unter dem Namen «Compass» produzieren liess. Ähnlich Jacques Bogopolski (1896-1962), der nicht nur der Vater der Bolex H16 war, sondern eine Kleinbild-Spiegelreflexkamera konstruierte, für dessen Fertigung er die Firma Pignons SA in Ballaigues aufsuchte. Nach zahlreichen Prototypen kam sie 1944 auf den Markt und deckte eine starke Nachfrage ab, die durch die Kriegs-bedingt fehlenden deutschen Kameras entstanden war. Weiter entdeckt der Leser in dem Buch viele weniger bekannte Zubehörteile und Kameras, die «Tessina» beispielweise, die mit einem Armband am Handgelenk getragen werden konnte, oder die «Steineck A-B-C», die mit einer runden Filmscheibe die Form und Grösse einer Armbanduhr aufwies.
Auch wenn man viele Geschichten dieser legendären Schweizer Kameras schon irgendwo gelesen hat, so bringen die sehr fundiert recherchierten Kapitel viel Neues und Wenigbekanntes ans Licht. Hinzu kommt, dass es zu jedem Kapitel ein Quellenverzeichnis gibt, was die intensiven Nachforschungen der Autoren weiter unterstreicht.
Für wen ist dieses Buch? Einmal in erster Linie für Interessierte an der Schweizer Fotogeschichte, die hier bezüglich vieler Einzelheiten und Klarstellungen fündig werden. Dann aber auch für jene Leserinnen und Leser, die an der Geschichte der Uhrenindustrie interessiert sind und in dem Buch viele spannende Zusammenhänge zwischen der Zeitmessung und der Zeitdokumentation entdecken. Kleiner Wermutstropfen: das Buch ist nur auf Französisch erhältlich – vorläufig wenigstens …
Urs Tillmanns
Buchbeschreibung des Verlages
Die Fotografie und die Uhrmacherei sind zentrale Techniken der westlichen Moderne und beruhen beide auf der genauen Beherrschung der Zeit. Im wahrsten Sinne des Wortes und symbolisch fassen sie die Zeit in Dosen. Ihre Nähe ist so gross, dass Roland Barthes von der Fotografie als einer «Uhr zum Sehen» sprach. Ihre enge Verbindung wurde bislang erstaunlich wenig beachtet.
In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, angesichts der Wirtschaftskrisen, fand das Know-how der Schweizer Uhrmacher eine Diversifizierung in der Herstellung von Fotoapparaten. Von der Fotografie zur Uhrmacherei führt zwar der Weg über die Optik und die Chemie, aber vor allem über die gemeinsame Basis der Präzisionsmechanik mit ihren Zahnrädern, Federn, Hebeln, Zählern und millimetergenauen Gehäusen als gemeinsame Basis.
Vom Vallée de Joux bis in den Aargau beginnen Unternehmen mit der Herstellung von hochwertigen Kameras. LeCoultre bietet den Compass (1937) an, ein Meisterwerk der Miniaturtechnologie. Die Alpa von Pignons SA (1944) wird mit dem Slogan «Die Kamera der Schweizer Uhrmacher» beworben. Die Taubenkamera Michel (1937) ist der Vorläufer der Kamera von Drohnen. Die Tessina von Siegrist AG (1960) ist eine der Fetischkameras von Spionen im Kalten Krieg. Die Zielkamera Fotofinish wurde in der Nachkriegszeit von Omega, Longines und bald auch von Swiss Timing entwickelt.
Dieses Buch bietet Fallstudien, thematische Essays und eine Vertiefung der Beziehungen zwischen Fotografie und Uhrmacherei. Es ist das Ergebnis eines Forschungsprojekts der Universität Lausanne und des Schweizerischen Kameramuseums in Vevey.
Der Inhalt
Introduction
Luc Debraine et Olivier Lugon
Appareil photo et horloge: le temps en boîte
Luc Debraine
L’art horloger de la photographie
Olivier Lugon
La diversification dans l’industrie horlogère
Pierre-Yves Donzé
Le Compass: construit, fini et vendu comme une montre
Marie Gabaglio, Alexandre Gattignolo et Abel Zuchuat
Les «spécialités horlogères» de César de Trey: horlogerie, publicité et photographie dans la Suisse romande de l’entre-deux-guerres
Alexandra Schmidt
L’Alpa, «la caméra des horlogers suisses»
Agatha Bottinelli Montandon, Lucas lliani , Judith Marchal et Audrey Beeler
Entre prise de vues et mesure du temps: l’automatisation des caméras de Jacques Boolsky de Genève à New York (1923-1945)
Stéphane Tralongo
L’appareil photographique pour pigeons Michel: esthétique surplombante et innovation technique horlogère
Gabrielle Duboux et Sébastien Scheiwiller
Photographie et minuterie: les retardateurs photographiques de l’industrie horlogère suisse
Sébastien Scheiwiller
Le Tessina: la photographie au service de l’espionnage
Géraldine Desarzens et Djamila Zünd
Photographier avec une montre: les appareils Ticka, Steineck A-8-C, Alos et Frey
Lina Cavin , Benjamin Davis, Tamara Pasternak et Luca Taddei
Le photofinish: l’image comme chronomètre
Yannick Abbruzzese, Simren Cornut, Bérangère Lepourtois et Abel Zuchuat
Die Autor/innen
Luc Debraine, Direktor des Schweizer Kameramuseums in Vevey und Journalist, hat vormals für die Tageszeitung «Le Temps» und das Magazin «L’Hebdo» gearbeitet. Er ist Lehrbeauftragter für visuelle Kultur an der Akademie für Journalismus und Medien der Universität Neuenburg. Er hat mehrere Fotoausstellungen organisiert, darunter «Tous photographes» (Musée de l’Elysée, Lausanne, 2007), «Jeune photographie suisse» (Salon du Livre, Genf, 2014) sowie «Chaplin Personal» (Chaplin’s World, Corsier-sur-Vevey, 2019).
Olivier Lugon, Fotohistoriker und Professor an der Universität Lausanne. Er ist Spezialist für die Fotografie des 20. Jahrhunderts, die Geschichte der Ausstellungsszenografie, der illustrierten Editionen und der Projektion sowie Mitherausgeber der Zeitschrift «Transbordeur: photographie, histoire, société». Zuletzt erschienene Bücher: «Nicolas Bouvier, iconographe» (2019), «Henry Brandt, cinéaste et photographe» (Hrsg. mit Pierre-Emmanuel Jaques, 2021).
sowie: Yannick Abbruzzese, Audrey Beeler, Agatha Bottinelli Montandon, Lina Cavin, Simren Cornut, Benjamin Davis, Géraldine Desarzens, Pierre-Yves Donzé, Gabrielle Duboux, Marie Gabaglio, Alexandre Gattignolo, Lucas lliani, Bérangère Lepourtois, Judith Marchal, Tamara Pasternak, Sébastien Scheiwiller, Alexandra Schmidt, Luca Taddei, Stéphane Tralongo, César de Trey, Abel Zuchuat und Djamila Zünd
Hinweis: Die Ausstellung «Photographie et horlogerie» ist noch bis 21. August 2022 zu sehen im Schweizerischen Kameramuseum, Vevey.
Bibliographie
Luc Debraine et Olivier Lugon «Photographie et horlogerie»
160 Seiten, ca 83 Abbildungen, Hardcover, gebunden, Format 19,5 x 26,7 cm
Sprache: Französisch
Infolio SA éditions, Gollion
Preis: CHF 36 / 29 EUR
ISBN 978-2-88968-033-7
Das Buch kann im Buchhandel gekauft, direkt beim Verlag bestellt oder im Ausland hier geordert werden.
Es ist zudem im Shop des Schweizerischen Kameramuseums in Vevey erhältlich
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«Kameramuseum Vevey: Die Uhrenindustrie im Dienst der Fotografie» Fotointern 21.01.2022