Nirgendwo im Globalen Süden wurde die Fotografie so enthusiastisch aufgenommen wie an der Küste West- und Zentralafrikas. Nur zwanzig Jahre nachdem das neue Medium 1839 in Paris vorgestellt wurde, verbreitete es sich schlagartig weltweit. So entwickelte sich auch zwischen Dakar und Luanda eine blühende Fotokultur.
Das Rietberg-Museum in Zürich steht ganz im Zeichen afrikanischer Fotografie: Während im Rietpark die Ausstellung des «Contemporary African Photography Price 2020 & 2021» zu sehen ist, präsentiert das Museum Rietberg «The Future is Blinking» mit früher Studiofotografie aus West- und Zentralafrika
Die Ausstellung «The Future is Blinking» im Museum Rietberg in Zürich zeigt erstmals in der Schweiz Fotografien von Berufsfotografen aus West- und Zentralafrika, die ab dem späten 19. bis zum frühen 20. Jahrhundert entstanden sind. Die frühesten Fotografien von der Küste West- und Zentralafrikas sind das Ergebnis einer selbstbestimmten Fotokultur und unterscheiden sich damit stark von der kolonialen Fotografie mit ihren von Vorurteilen geprägten Darstellungen von afrikanischen Personen. In einer Zeit, in der das Leben von kolonialer Unterdrückung dominiert war, wurde das Freiluftstudio zum Ort der Selbstbestimmung, Selbstdarstellung und Identitätsbildung. Dabei wird das Potential der Fotografie, neue Wirklichkeiten zu erschaffen, genutzt. Insbesondere Frauen standen dem neuen Medium aufgeschlossen gegenüber. Ihre Schönheit setzten sie zusammen mit prächtigen Textilien als Ressource vor der Kamera ein, um ihre Position in der Gesellschaft zu artikulieren.
In vier verschieden Abteilungen werden verschiedene Arten und Epochen der frühen Studiofotografie West- und Zentralafrikas gezeigt
Die meisten frühen Bilder westafrikanischer Fotografen befinden sich heute auf Postkarten gedruckt oder in Alben geklebt in Archiven im Globalen Norden. Lange Zeit vermutete man, dass es sich bei den auf die Rückseite solcher Fotografien gedruckten Namen um europäische Fotografen handelte. Erst in den letzten zwanzig Jahren haben Recherchen ergeben, dass die meisten Studiofotografien eine lokale Urheberschaft haben.
Bei den Pionieren handelte es sich um junge Männer der städtischen Elite mit ähnlichen Biografien. Viele von ihnen stammten aus Sierra Leone oder Gambia und wurden in Missionsschulen ausgebildet. Sie führten ein rastloses Leben und reisten mit ihren mobilen Freiluftstudios auf dem Dampfschiff entlang der Küste von Dakar bis Luanda; sie verstanden sich als Künstler und beherrschten die neuesten Techniken ihrer Zeit.
Zusammen mit ihrer Kundschaft schufen Fotografen aus der Region in Freiluftstudios einzigartige Porträtfotografien. Die Ausstellung entschlüsselt die in den Fotografien sichtbaren Codes und bringt die Bilder zum Sprechen. «The Future is Blinking» fokussiert auf die Selbstinszenierung vor der Kamera lange bevor das Thema durch digitale soziale Plattformen hochaktuell wurde. Obwohl die Identitäten der meisten Abgebildeten im Laufe der Zeit auf diese Weise verloren gegangen sind, begegnen wir ihrem Blick und stellen fest, dass sie bei der Gestaltung der Fotografien das letzte Wort hatten.
Die Fotografen stellten für diese Verwandlungen ihrer Kundschaft eine Bühne mitsamt Ausstattung zur Verfügung. Dazu gehörten neben Hintergründen auch Dekors und Accessoires. Die Porträtierten wählten, je nachdem welche Absicht sie mit den Bildern verfolgten, die passenden Elemente aus und vermischten sie mit Dingen aus ihrem persönlichen Besitz.
Fotokulissen als Projektionsflächen, die die Welt verschönern und verbessern sollten, waren ein wichtiges Element der Fotografien. Um ihrer Modernität Ausdruck zu verleihen, griffen Abgebildete auch auf importierte Accessoires wie Tropenhelme, Schirme oder Kunstblumen zurück. Je nach Anlass für den Studiobesuch wurden auch traditionelle, mit lokaler Bedeutung aufgeladene Accessoires wie Schmuck, Stoffe oder Insignien politischer Macht verwendet.
Passend zu den Fotografien sind in der Ausstellung auch verschiedene Skulpturen und Kleinobjekte zu sehen
Textilien kam in der Porträtfotografie eine besondere Bedeutung zu. Sie sorgten für Bewegung, indem sie mit ihren asymmetrischen Mustern die ausgewogenen Bildkompositionen durchbrachen. Mit ihrer Wahl der Stoffe signalisierten die Porträtierten ihren sozialen Status, ihre Zughörigkeit zu einer bestimmten regionalen Gruppe oder ihre Beziehung untereinander. Stoffe konnten auch an Pubertätsriten oder Beerdigungen erinnern, verkörperten also die Erinnerung im Erinnerungsfoto.
Die Fotografie hat in West- und Zentralafrika keine Leerstelle besetzt. Vielmehr hat sie an anderen lokalen Künsten angeknüpft, ist in einem wechselseitigen Verhältnis gestanden oder auch Symbiosen eingegangen. Diese Beziehungen zu anderen Künsten haben die besondere Ästhetik der west- und zentralafrikanischen Fotokultur hervorgerufen. Anders als im Globalen Norden war dafür nicht die Malerei prägend, sondern die Bildhauerei und die performativen Künste. Das Verhältnis zwischen Fotografie und Bildhauerkunst wird erstmals in dieser Ausstellung thematisiert. Statt des Meissels benutzten Fotografen Grafitstifte, um ihre Kunstwerke so zu bearbeiten, dass sie dem idealen Menschen möglichst nah kamen. Mit diesen Eingriffen wurden die Spuren des Lebens getilgt, sodass die Gesichter wie eine Maske erschienen – ein Ideal, das aus der Schnitzkunst übernommen wurde.
«The future is blinking» ist ein Zitat des ghanaischen Fotografen Philip Kwame Apagya (*1958) aus dem Film Future Remembrance (1997). Apagya nimmt damit Bezug auf die in seinen Augen wichtigste Aufgabe der Fotografie in Ghana, nämlich mit idealisierten Porträts Erinnerungen zu schaffen für zukünftige Generationen. Auch die Studiofotografie des ausgehenden 19. Jahrhunderts hatte die Zukunft im Blick, indem Wunschbilder für die Nachwelt inszeniert wurden.
Viele Fotografien in dieser Ausstellung wurden bereits kurz nach ihrer Produktion als Postkarten an Reisende verkauft. Mit dem Übergang privater Fotografien in die öffentliche Sphäre wurden die Bilder von den Narrativen und Praktiken getrennt, die die Fotografien mit Bedeutung aufluden und anhand derer die Porträtierten erkennbar blieben.
Das Crowdsourcing-Projekt «Ghana We Dey», was übersetzt «Wir sind Ghana» bedeutet, hat zum Ziel, historische Fotografien aus privaten Familienalben in Ghana und seiner Diaspora auf einer digitalen Plattform zu sammeln, Erzählungen über sie zu dokumentieren und gleichzeitig die Fotografien zu bewahren.
Als Objekte eines «living archives» tragen ihre Oberflächen die Spuren ihrer Eigentümerinnen und Betrachter, welche die Bilder für ihren persönlichen Gebrauch verändert, angepasst und beschrieben haben. Die Plattform dient dabei als fluider demokratischer Ort, der einen neuen Blick in die Vergangenheit ermöglicht. Auf der Website www.ghanawedey.net und auf Instagram unter @ghanawedeyproject kann das stetig wachsende Bilderarchiv eingesehen und erweitert werden.
Die Ausstellung wirft Fragen zu unserem Afrikabild, zu Fremd- und Selbstwahrnehmung, zu Exotisierung und letztendlich zur Darstellung des Anderen auf. Mit der wachsenden Beliebtheit der Bildpostkarte im frühen 20. Jahrhundert bot sich den Fotografen ein lukratives Geschäftsfeld. Die afrikanischen Auftraggeber von Postkarten waren vertraut mit dem Bildhunger Europas nach Exotik und nutzten diesen zu ihren Gunsten, indem sie Bilder inszenierten, die Besuchende aus dem Ausland ansprachen. Sie verwendeten auch von Familien privat in Auftrag gegebene Porträts. Mit verallgemeinernden Bildunterschriften versehen, verloren die abgebildeten Personen ihre Identität; abgebildete Frauen wurden vom Körper-Subjekt zum Körper-Objekt.
(Redigierter Pressetext)
Situationsbilder: Urs Tillmanns / Fotointern.ch
Die Ausstellung «The future is blinking» ist noch bis 3. Juli 2022 zu sehen im
Museum Rietberg
Gablerstrasse 15
CH-8002 Zürich
Tel. 044 415 31 32