Der Covid-Lockdown hat den Bieler Fototagen eine zweijährige Pause verordnet. Dafür kann dieses traditionelle Fotofestival trendiger Fotografie jetzt das 25-jährige Jubiläum feiern. Das Thema lautet dementsprechend «Recover» und befasst sich mit der Frage, wie Bilder nach dieser langen Pandemie zur Wiederherstellung und Heilung beitragen können. Dies auch, weil die meisten der vielfältigen Arbeiten von 20 Künstlerinnen und Künstlern in dieser Covid-Zeit entstanden sind. Die bei dieser Ausgabe vorgestellten KünstlerInnen und Projekte erkunden die Praxis des Bildes als Instrument, welches es ermöglicht, eine beschädigte oder zuweilen gar abgebrochene Beziehung des Einzelnen zur modernen Welt wieder herzustellen.
Subjektiver Rundgang durch die Ausstellungen der Bieler Fototage
Die 20 Ausstellungen an elf verschiedenen Orten in Biel zeigen eine breite thematische Vielfalt kreativen Schaffens unter dem Leitwort «Recover». Dabei sind auch die Ausstellungsorte originell gewählt: Neben dem Ausstellungskomplex im Kulturzentrum Pasquart sind die verschiedenen Präsentationen in romantischen Gewölben, einem jahrhundertealten Dachstock, in einem ausgedienten Kiosk, in der Schule für Gestaltung oder im Freien zu finden. Hier einige Highlights, die wir auf unserem Rundgang durch die schmucke Altstadt entdeckt haben.
Reto Camenisch: «Das vierte Drittel und die Poesie der Angst»
Reto Camenisch erfuhr vor drei Jahren von seiner Krebserkrankung, was einen neuen Dialog mit seinem Geist, seinem Körper und seinem fotografischen Schaffen auslöste, um ein neues Sehen zu erkunden. Während einer fünfwöchigen Therapie in Südindien liess er seine Vergangenheit Revue passieren und lernte die Gegenwart zu akzeptieren. Durch diese Erfahrung entwickelte der Fotograf eine neue Beziehung zum Bild und zu dessen Darstellung. In seiner Ausstellung ist erstmals sein Werk der drei vergangenen Jahre zu sehen: eine visuelle Recherche, die dokumentarische Landschaftsfotografien mit einem Tagebuch kombiniert – Elemente, die ihn bei seinem Heilungsprozess begleiteten.
Silvia Rosi: «Encounter»
Silvia Rosi zeigt in ihrem Werk Momente, die von ihrer Familiengeschichte und ihr togolesisches Erbe und den Migrationswegen inspiriert sind, welche sie nach Italien geführt haben. Im Mittelpunkt ihrer westafrikanischen «Studioporträts» stellt sie die Visualisierung ihrer italienischen Afro-Abstammung und die ständige Arbeit der Identitätsverhandlung in den Vordergrund. In Encounter beleuchtet die Künstlerin die Komplexität familiärer Beziehungen und die (Selbst-)Darstellung familiärer Bindungen als einen Ort, an dem strukturelle soziale Fragen auftauchen und Subjektivitäten gefeiert werden, die im Mainstream verborgen sind.
Zoé Aubry: «#Ingrid»
Seit 2018 entwickelt die Künstlerin Zoé Aubry ein Projekt zur Problematik der medialen Darstellung von Femiziden. Ihre Arbeit betrifft den Mord an einer jungen Mexikanerin, die von ihrem Mann, im Februar 2020 getötet und deren Leiche zerstückelt worden ist. Nach diesem Verbrechen wurden in den mexikanischen Boulevardzeitungen theatralische Bilder des leblosen und zerstückelten Körpers des Opfers und des Tatortes publiziert, was eine öffentliche Empörung auslöste. Für ihre Installation hat Zoé Aubry die Bilder gesammelt, die in den Wochen nach dem Mord im Rahmen dieser kollektiven Bewegung veröffentlicht wurden. Um den Kampf gegen diese Veröffentlichung fortzuführen und die Botschaft in den öffentlichen Raum von Biel zu tragen, lädt die Künstlerin alle dazu ein, ihren Bildern in der Stadt über eine partizipative Plakataktion Sichtbarkeit zu verleihen.
Aàdesokan: «Flowers for the Soul»
Nachdem sich ein enger Freund das Leben genommen hatte, begann der Künstler Aàdesokan Erinnerungsteller mit Blumen zu bemalen und versuchte damit seine zerstörerischen Gedanken zu organisieren, seinen Schmerz zu kanalisieren, aber auch im Dialog mit einem Menschen zu bleiben. Die einzelnen bemalten Teller wurden anschliessend auf eine Stola seiner Mutter gelegt und frontal fotografiert. Diese Installation beinhaltet die Fotoserie des Künstlers, einen Blumenstrauss, der im Verlaufe der Ausstellung verwelken wird, und einem Soundtrack, in welchem Aàdesokan einen Brief an seinen verstobenen Freund vorliest. Mit seiner Arbeit hinterfragt Aàdesokan die Essenz des Lebens und erforscht die Fotografie als Mittel, um gegen das Sterben anzukämpfen.
Joud Toamah: «The River Shines Stronger than the Sun»
Toamahs Ausstellung erforscht die Möglichkeiten der Heilung, die sich in der Praxis des Bearbeitens und Teilens von Bildern verbergen. Ihr Projekt verwendet digitalisierte Bilder aus Familienalben, welche die Künstlerin von Bekannten, Freunden und Familienmitgliedern aus Syrien und der syrischen Diaspora bezieht. Durch die Verarbeitung und Verbreitung von Bildern schlägt die Künstlerin einen Weg zur Wiederherstellung von Beziehungen vor. «Auf seiner digitalen Reise der Neuverortung erwirbt das Bild verschiedene Formen des In-Kontakttretens» (Petra Van Brabandt). Auf diese Weise wird die fotografische Praxis zu einem Ort, an dem Beziehungen entstehen und ermöglicht werden.
Igor Tereshkov: «Red Heat»
Während des in Russland verhängten Covid-Lockdowns im Frühling 2020 begann Igor Tereshkov eine Fotoserie mit einer Wärmebildkamera. Besessen von der Idee das Virus, das den Raum um uns herum permanent im Griff hat, die Menschen isoliert und in unsere Körper eindringt, darzustellen, richtet er seinen Blick auf seine Umgebung, die bedrohlich geworden ist, und auf die Isolation, die unsere Gesellschaften zu diesem Zeitpunkt beherrscht. Die Darstellung von Temperaturunterschieden in Formen und Farben wird so zu einer expressionistischen Bildserie. Sie zeigt eine geschwächte Welt und erforscht die Möglichkeiten Unsichtbares abzubilden.
SNF-Wettbewerb für wissenschaftliche Bilder
Die wissenschaftlichen Entdeckungen, die Schlagzeilen machen, werden der vielfältigen Welt der Forschung nicht gerecht. Denn sie besteht nicht nur aus Zahlen und Fakten, sondern auch aus Menschen, ihrer Neugierde, ihrem Engagement und Erfindungsgeist. Die 14 ausgezeichneten Arbeiten des SNF-Wettbewerbs für wissenschaftliche Bilder 2022 geben überraschende Einblicke in die Forschungswelt von heute. Die Wettbewerbskategorien waren Forschungsobjekte, Männer und Frauen der Wissenschaft, Orte und Werke der Forschung sowie Videos
Katherine Longly: «Dis-moi ce que tu manges»
In einer Gesellschaft, in der das Individuum ständig mit seinem Aussehen konfrontiert wird, ist das Essen sowohl ein Vergnügen als auch eine Art mit seinen Mitmenschen in Verbindung zu treten. Es ist aber auch ein Mittel, seine Emotionen zu zügeln und gleichzeitig ein mächtiges Instrument, um seinen Körper zu beherrschen. Im Rahmen eines immersiven einwöchigen Workshops am französischen Gymnasium von Biel behandelte Katherine Longly mit einer Klasse Problematiken rund um den Körper und seine Ernährung aus der Sicht der Schülerinnen und Schüler – einer Generation, die sich mit Fragen auseinanderzusetzen hat, die sich spezifisch auf ihr Alter, aber auch auf die heutige Zeit beziehen. Die Künstlerin hat diverse Aussagen zusammengetragen und gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern verschiedene Recherchen und Erkundungen zu ihrem Thema durchgeführt, damit sie ihr «Selbstbild» zurückgewinnen können.
Stephen Dock: «Human Interest Stories»
Mit gerade einmal 22 Jahren reiste Stephen Dock in den Mittleren Osten, um dort über die Konflikte und ihre Folgen zu berichten. Zehn Jahre später wirft er einen neuen Blick auf sein eigenes Fotoarchiv aus Syrien und interpretiert es neu. Durch die zeitliche und faktische Distanz zu den Bildern ordnet er sich seine eigene Handschrift auf radikale Weise neu an und befreit sie insbesondere durch Versuche und Interventionen von fotojournalistischen Zwängen. Das Ergebnis ist eine Recherche zur organischen Materie des analogen und digitalen Bildes. Zwischen Bildern der Zerstörung und der Zerstörung des Bildes wird mit dieser Serie die ikonografische Funktion und das fotografische Kriegsvokabular grundlegend hinterfragt.
Elliott Verdier: «Reaching for Dawn»
Diese Fotoserie ist ein Versuch, das Schweigen über dem blutigen Krieg zu brechen, den Liberia von 1989 bis 2003 durchlebte. Zwei Jahre lang bereiste der Künstler mit seiner Grossformatkamera das ganze Land, von den Diamantenminen in Gbarpolu über das endlose Elendsviertel von Westpoint bis zum Fischerhafen von Harper, um die unsichtbaren Spuren dieser Tragödie sichtbar zu machen. Sein dokumentarisches Werk besteht aus finsteren und verlassenen Landschaften in Schwarzweiss und aus farbigen Porträts, die den Menschen vor Ort eine Stimme verleihen. Diese beiden Bildsequenzen werden begleitet von Tonaufnahmen mit Aussagen von Opfern und Peinigern, die über ihr jeweiliges Schicksal berichten.
Claire Beckett: «The Converts»
Claire Beckett beschäftigt sich mit den widersprüchlichen Darstellungen des Islams, die im amerikanischen Kontext nach dem 11. September gelehrt und gelernt werden. 2012 begann sie in Boston eine Ausbildung in Islamwissenschaften, um besser zu verstehen, was es heisst, heute als Muslimin oder Muslim in den Vereinigten Staaten zu leben. Die hier präsentierte fotografische Recherche «The Converts» ist eine Kombination aus Porträts von zum Islam konvertierten Personen, die sie im Rahmen dieses Studiums kennengelernt hat, Bildern vom Umfeld, in dem die Vorlesungen stattfanden, erhaltenem Kursmaterial und Anmerkungen, die sie seit 2012 gesammelt hat. In einem komplexen politischen Kontext, in dem die Religion zuweilen instrumentalisiert wird, möchte sie mit ihrem fotografischen Werk die verschiedenen Darstellungen im Zusammenhang mit der Vermittlung des Islams in der heutigen Zeit hinterfragen.
Laurence Rasti: «Délits de Séjours»
Durch ihre fotografische Ermittlung versucht Laurence Rasti, den in Genf lebenden Menschen mit Migrationshintergrund, eine Stimme zu geben. Diese «sanspapiers» ohne Aufenthaltsbewilligung, sind Teil der eigentlichen Identität von Städten. Diese dokumentarische Arbeit umfasst einerseits in unterschiedlichen urbanen Kontexten realisierte Farbporträts dieser Menschen und andererseits Bilder der Institutionen und Organisationen, die sie beherbergen und deren Aufnahme- und Betreuungsverfahren manchmal widersprüchlich sind. Sie nehmen diese Menschen nicht nur auf, sondern sperren sie paradoxerweise auch ein, weisen sie weg und schaffen sie manchmal sogar aus.
Axelle Bruniau: «Leughenaer»
«Leughenaer», Lügner auf Flämisch, ist ein Film, der die Verbindungen der Künstlerin mit ihrem familiären und kulturellen Erbe hinterfragt. Diese autobiografische Erzählung nimmt Bezug auf die Transweiblichkeit der Künstlerin und eine Identitätssuche in einem familiären und sozialen Umfeld, in dem die Kultur des Karnevals und der Verkleidung während drei Monaten im Jahr das Leben bestimmen. Als Autorin und Darstellerin eignet sie sich eine persönliche Geschichte, die Geschichte ihrer Kindheit, wieder an und beschreibt in Bildern einen Übergang, der wie eine Reise im Laufe der Zeit entstanden und sie selbst geworden ist.
Wu Yumo and Zhang Zeyangping: «Natural Whispers»
Das chinesische Künstlerduo hat während drei Monaten im Wallis gearbeitet und mit ihrem Projekt die Verbindungen und die Spannungen zwischen Individuum und Natur untersucht. Aus ihren Recherchen hervorgegangen sind verschiedene Produktionen, die sie direkt in der Natur oder mithilfe von Objekten realisiert und von ihren langen Wanderungen ins Atelier zurückgebracht haben. Ihre Installation besteht aus verschiedenen Werken: Landschaftsfotografien, Bilder, die anhand von lichtempfindlichem Papier realisiert wurden, das sie direkt in der Natur den Witterungseinflüssen aussetzten, sowie Audiovisuelle- und Klangproduktionen. Durch seine Arbeit erkundet das Künstlerduo die Frage der Darstellung der Landschaft durch verschiedene Einstellungen und Techniken mit dem Ziel, einen poetischen Dialog mit den Naturelementen zu generieren.
Mikail Koçak: «Büfe / K(i)öşk»
Zwischen Tradition und Moderne hinterfragt Mikail Koçak rastlos das Fortbestehen von kulturellem Erbe wie auch multiple Identitäten, die aus dem Exil entstanden sind. Das Ergebnis seiner Bemühungen zur Rückeroberung dieses Erbes sind Installationen, die narrative Möglichkeiten wecken und Verbindungen zwischen seinen beiden Kulturen, der östlichen und der westlichen, knüpfen. Mikail Koçak bedient sich für die Präsentation seiner Arbeit eines alten Kiosks am Juraplatz und behandelt dieses formbare Wort sowohl in seiner Muttersprache (Türkisch) als auch in seiner Nationalsprache (Französisch). Durch die Überlagerung der Ufer des Bosporus und der Strassen von Biel, von zwei Kontinenten und zwei Kulturen durch Fiktionen, möchte der Künstler einen Chamäleon-Ort schaffen.
Schule für Gestaltung Bern und Biel
Schülerinnen und Schüler der 2. Fachklasse Grafik an der Schule für Gestaltung Bern und Biel haben unter Anleitung ihrer Lehrer Dominik Müller und Alexandre Jaquemet eine Reihe von Arbeiten realisiert, die auf die Themen der diesjährigen Bieler Fototage Bezug nehmen. Die Arbeiten werden im Ausstellungsraum der Schule für Gestaltung gezeigt.
25 Bieler Fototage im Rückblick
Das Festival fand seinen Anfang mit den drei leidenschaftlichen Fotografen Mirei Lehmann, Olivier Evard und Vincent Juillerat. Der Erfolg der ersten Ausgabe 1997 evozierte eine Wiederholung der Veranstaltung im jährlichen Rhythmus. Im Folgejahr schliesst sich Stefano Stoll der Organisation an und legt mit Vincent Juillerat den Grundstein für die Bieler Fototage: Ein festgelegtes Thema diktiert die Ausgestaltung der Ausstellungen, über die Stadt Biel verteilt. Seit seinen Anfängen wurde und wird das Festival vom Photoforum Pasquart unterstützt.
Seit dem Jahr 2000 haben auch die Museen Schwab und Neuhaus ihre Räumlichkeiten für die Veranstaltung zur Verfügung gestellt. Im Jahr 2003 wurde dann eine erste, feste Stelle geschaffen: Barbara Zürcher, Kunsthistorikerin aus Basel, übernahm erstmals die Direktion der Bieler Fototage. In dieser Position rückte sie die Schweizer Fotografie in den Fokus und baute gleichzeitig das internationale Netzwerk mit Wanderausstellungen in Ausland auf. 2007 übernehmen Hélène Joye-Cagnard und Catherine Kohler (bis 2014) die Leitung. Das Festival wird nun zu einer Plattform für die nationalen und internationalen aufstrebende Fotografie mit themenspezifischem Bezug in Hinblick auf die Anwendung und Praktiken der zeitgenössischen Fotografie. Hinzu kommen ein auf die Fotografie spezialisiertes Kulturvermittlungsprogramm und Fachtage, sowie Netzwerk-Anlässe für FotografInnen. Im Januar 2018 übernahm Sarah Girard die Direktion der Bieler Fototage.
Im Jahr 2020 wurde die 24. Ausgabe der Fototage, aufgrund der Covid-19-Pandemie um ein Jahr verschoben. Das Festival wurde auf Eis gelegt und konzentrierte seine Ressourcen auf die Verschiebung. Während des Teil-Lockdowns beauftragte die Direktion ihr Team mit der Archivierung der Festivaldokumente mit dem Ziel, sie der Stadt Biel zu schenken. Im Anschluss an diese 2021 begonnene Archivierungsarbeit wurden die Dokumente der ersten 13 Ausgaben (1997–2010) im Stadtarchiv der Stadt Biel deponiert und der Öffentlichkeit zur Einsichtnahme zur Verfügung gestellt. Dieses Archivierungsprojekt wird nun laufend fortgesetzt.
Anlässlich seiner 25. Ausgabe schaltet das Festival eine neue Website auf, die seine Online-Sichtbarkeit verbessert und seine früheren Ausgaben aufwertet. Sie finden Sie unter der Adresse www.bielerfototage.ch
Die Bieler Fototage dauern noch bis 29. Mai 2022 und sind an 11 Orten (siehe Plan) in Biel/Bienne zu sehen.
Weitere Informationen finden Sie auf der Website www.bielerfototage.ch/de auf Deutsch bzw. https://bielerfototage.ch/fr/ auf Französisch.
Situationsbilder: Urs Tillmanns