Vor mir liegt ein Buch, 30 mal 40 Zentimeter gross und sechs Zentimeter dick, das rund sechseinhalb Kilo auf die Waage bringt. Ein gewichtiges Werk also, nicht nur was seine Haptik anbelangt, sondern es fällt auch mit seinem Inhalt auf. Das Thema sind Farbbilder aus den Alpen um 1900 – zu einer Zeit also, als es noch keine populäre Farbfotografie gab. Die sogenannten «Photochromes», die nach der Erfindung von Hans Jakob Schmid (1856-1924) bei Orell Füssli in Zürich um die vorletzte Jahrhundertwende gross in Mode kamen, waren manuell angefertigte mehrfarbige Lithografien nach Schwarzweissaufnahmen, die als Einzeldrucke, in Alben oder vor allem als Postkarten auf dem Markt waren. Typisch für die Photochromes ist eine übertriebene Farbführung, die uns heute in den meisten Fällen fast kitschig vorkommt, die aber damals durchaus dem Zeitgeist und dem Käuferwunsch entsprachen.
Ein grosser Anteil des Photochrome-Nachlass der Vermarktungsfirma Photoglobe zeigt Bilder aus den Alpen wohl deshalb, weil diese vor allem in den Touristikorten als Postkarten lukrativ und zu Werbezwecken auffallend eingesetzt werden konnten. Dieser reichhaltige Fundus stellt dann auch die Grundlage dieses gigantischen Werkes dar, welches die gesamte Alpenregion, von den Französischen Alpen über die Nord- und Ostschweiz, das Wallis mit den Italienischen Seen und Graubünden über die Bayerischen und Niederösterreichischen Alpen bis ins Tirol, den Dolomiten bis zu den Julischen Alpen abdeckt. Sämtliche Texte des Buches sind dreisprachig Deutsch, English und Französisch, womit das Buch eine grosse internationale Leserschaft erreicht.
Das Buch dreht das Rad der Zeit mehr als ein Jahrhundert zurück, in eine Zeit, als die Dampf- und Standseilbahnen allmählich die Alpen erklommen, um die Touristen mühelos auf die höchsten Gipfel der Alpen zu bringen. Es zeigt auch, wie die Bergsteiger – und wenige Bergsteigerinnen – mit Stöcken und Leitern bewaffnet auf waghalsigen Klettertouren unterwegs waren oder auf den gigantischen Gletschern, die damals noch bis in die Täler reichten. Das Buch dokumentiert diese Zeit des aufblühenden Tourismus und der Transportmittel in der Alpenregion eindrücklich und präsentiert uns die seltensten Ansichten mit grossformatigen Farbdrucken. Photochrom war ein Meilenstein der Drucktechnik und das vorliegende Buch ist ein umfassendes und eindrucksvolles Beispiel dazu.
Ein weiterer spannender Teil der Illustrationen betrifft den Einsatz der Photochrom-Drucke als Werbemittel für Touristikorte und vornehme Hotels, die sich das teure Verfahren leisten konnten, um eine vornehme Gesellschaft für ihre Dienstleitungen zu begeistern. Hier ist auch die Grafik der Plakate und Prospekte interessant, welche für die damalige Zeit sinnbildlich war.
Das Buch geizt nicht mit Abbildungen, von denen rund 1100 zu finden sind – viele davon im Postkartenformat, halb- oder ganzseitig, oder dann als beeindruckende Doppelseiten. Auch in diesem Grossformat wirken die Bilder noch erstaunlich scharf und zeigen einen grossen Detailreichtum, der einerseits auf das damals schon ausgereifte Lithografie-Verfahren zurückzuführen ist, jedoch auch auf moderne Qualitätsverbesserung mittels digitaler Bearbeitung. Allerdings war es damals bei den Photochromes durchaus üblich, dass gewisse Motivelemente zusätzlich ins Bild eingefügt wurden, die auffallend von ihrer Perspektive oder Grösse her nicht so ganz in das Bild passen wollten. Das war damals üblich, und nur wenige Postkartenkäufer dürften dies bemerkt haben.
Für wen ist dieses Buch? Der Interessentenkreis ist dreigeteilt. Einmal sind es Leserinnen und Leser, die sich für die frühe Fotografie und Lithografietechnik interessieren und von den epochalen Photochromes fasziniert sind. Dann dürften geografisch und alpinistisch Interessierte viel Sehens- und Wissenswertes in dem Buch finden. Und drittens ist es ein ideales Geschenk für Leute, die sich für nostalgische Ansichten der Alpen interessieren – mit Bildern, wie man sie wahrscheinlich noch nie gesehen haben.
Urs Tillmanns
Buchbeschreibung des Verlages
Die zeitlose Schönheit der Alpen in Photochromen aus der Zeit um 1900.
«Nichts lässt sich mit den Alpen vergleichen», stellt der berühmte französische Historiker Jules Michelet 1868 fest. Das riesige Alpenmassiv im Herzen Europas birgt einige der großartigsten Naturschönheiten der Welt – den Montblanc, die Jungfrau, das Matterhorn und ihre Gletscher. Der Tourismus, der im späten 18. Jahrhundert einsetzt, nimmt in der Folgezeit gewaltig zu, insbesondere durch den unaufhaltsamen Aufschwung des Wintersports.
Dieses Buch entführt uns in eine hinreißend altmodische Zeit, in der die ersten Berg- und Zahnradbahnen Herren in Lederhosen und Damen in langen Röcken an den Rand der Gletscher brachten, in der einheimische Führer mit Touristen auf Maultierrücken unterwegs waren, Bergsteiger als Verrückte galten und Skifahrer eine Kuriosität darstellten.
Mit Hilfe von Photochromen, Fotografien, kolorierten Postkarten, Plakaten und Reiseprospekten aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert überqueren wir Pässe wie den Mont Cenis, Simplon, Brenner und St. Gotthard, besteigen den Montblanc, den Eiger, das Wetterhorn und die Dolomiten, bewundern kristallklare Seen in der Schweiz, Italien, Bayern und Slowenien, erkunden Tirol, die Via Mala oder das Engadin und steigen für eine Wintersportsaison in einem Grandhotel in Gstaad, Grindelwald, Davos, St. Moritz oder Cortina ab. Ein Streifzug, den Zitate von Reiseschriftstellern begleiten und der an die glücklichen Zeiten erinnert, als Schnee und Berge noch unberührt waren!
Der Inhalt
Einleitung
Eine Reise in Farbe
Die Alpen in Farbe / Standseilbahnen bezwingen die steilsten Hänge / Die Sommerfrische / Die Erfindung des Wintersports / Die Eroberung der Gipfel / Der Spielplatz Europas
Französische Alpen und Aostatal
Grande Chartreuse / Mer de Glace
Nord- und Ostschweiz
Rigibahn
Wallis, Italienische Seen und Graubünden
St. Gotthard
Bayerische und Niederösterreichische Alpen
Zugspitze / Salzkammergut
Tirol, Dolomiten und Julische Alpen
Tiroler Trachten
Appendix
Index / Bibliografie / Danksagung
Die Autorinnen
Agnes Couzy ist Journalistin und Autorin, aber auch eine passionierte Bergsteigerin. Sie hat zahlreiche Bücher zum Thema Berge veröffentlicht, darunter Femmes alpinistes (2008), Aiguille du Midi et Vallee Blanche (2003), Brian9onnais aux six vallées (2017), Alps/Aipi/Aipen/Aipes (2007) und Voyages dans Ies Alpes (2007, als Co-Autorin).
Sabine Arque ist Dokumentarin, Bildredakteurin und Autorin. Sie hat an zahlreichen Publikationen zu Reisethemen sowie zur Geschichte des Tourismus und der Fotografie mitgewirkt.
Bibliografie
Sabin Arqué & Agnés Couzy: The Alps 1900. A Portrait in Color
600 Seiten, gebunden, ca 1100 Photochrom-Farbbilder mit ausführlichen Bildlegenden,
Hardcover mit Schutzumschlag und Schatulle, Format 29 x 39,5 cm, 6,40 kg
Sprachen: Deutsch, Englisch, Französisch
Auflage nummeriert
Taschen-Verlag, Köln
Preis: CHF 150.00 / EUR 150.00
ISBN 978-3-8365-7355-6
Das Buch kann im Buchhandel gekauft, beim Verlag direkt bestellt oder im Ausland hier geordert werden.
Lesen Sie auch
Buchtipp: «Italy 1900 – ein Porträt in Farbe», Fotointern.ch 12.05.2022, 11:23