Das Fotofestival Lenzburg hat sich in den letzten Jahren fest in der Schweizer Fotokulturszene etabliert und vereint dieses Jahr bereits zum fünften Mal alle Kunstbegeisterte, um mit zwölf sehr unterschiedlichen Positionen das Thema «Resourcen» zu untersuchen. Dieses war schon letztes Jahr Leitgedanke des Fotofestivals Lenzburg, doch hat sich inzwischen die Frage nach den Resourcen derart verändert, dass das Thema als konstruktiver Dialog noch an Aktualität gewonnen hat. Zum diesjährigen Festival liegt der Schwerpunkt auf der Beziehung zwischen Mensch und Natur, und deren Wechselwirkung in Bezug auf unser aller Gesundheit, Lebensqualität und Nachhaltigkeit sowie den grossen klimatischen und gesellschaftlichen Veränderungen, die wir derzeit erleben.
Fotografie ist in den Vitrinen Lenzburgs omnipräsent
Das Fotofestival ist auch in den Schaufenstern von 37 Geschäften und Lokalen in Lenzburg omnipräsent. Es sind die Gewinnerbilder des Wettbewerbes «Open Calls re:sources 2.0, Kategorie Einzelbilder», die in den verschiedensten Vitrinen zu entdecken sind. Und so haben die Besucherinnen und Besucher die Möglichkeit 65 ausgewählte Bilder zum Thema Ressourcen zu entdecken, die von den zahlreichen internationalen Künstlerinnen und Künstlern eingereicht wurden.
Welchen Stellenwert hat das Fotofestival Lenzburg in der Schweizer Fotoszene, wollten wir von Kurator Daniel Blochwitz wissen. «Es ist noch ein kleineres Fotofestival» gesteht Blchwitz, «doch können wir es bezüglich der Qualität durch aus mit Fotofestivals, die schon länger bestehen, aufnehmen. Wir haben einen guten Mix aus Schweizer Fotografen und Fotografinnen und internationalen Künstler/innen, die hier ihre Werke zeigen können. Zudem hat das Fotofestival Lenzburg den Vorteil, dass es einen Monat lang dauert und so von einer grossen Besucherzahl beachtet wird.» Corona habe nur einen indirekten Einfluss auf das diesjährige Fotofestival gehabt, indem viele der Künstlerinnen und Künstler die Lockdown-Zeit genutzt haben, um neue Werke zu schaffen, die jetzt hier zu sehen sind.
Ein Rundgang durch die Ausstellungen
«Sinomocene» von Davide Monteleone untersucht ein Projekt, das die Welt verändern könnte
Im Stapferhaus, gleich beim Bahnhof, zeigt das Fotofestival Lenzburg erstmals das Werk «Sinomocene», ein Langzeitprojekt seit 2014 des in Zürich lebenden italienischen Künstlers Davide Monteleone. Die Arbeit untersucht die immensen Anstrengungen Chinas, den globalen Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr durch eine Infrastrukturinitiative, namens «Belt and Road», oder besser bekannt als «Neue Seidenstrasse», neu zu gestalten und damit das geopolitische Gleichgewicht Richtung Osten zu verschieben. Es besteht jedoch eine gewisse Diskrepanz zwischen den wirtschaftlichen und geopolitischen Prozessen, die hier am Werk sind, und der Art und Weise, wie sie sich in der Welt manifestieren. Während grosse Infrastrukturprojekte wahrgenommen und fotografiert werden können, laufen andere unsichtbar ab, wie beispielsweise der Verkehr von Daten, Wissen, Patenten, Informationen und des Kapitals. Welche langfristigen Auswirkungen diese Entwicklung auf die Umwelt, Ressourcen und das Klima hat, ist noch nicht absehbar. Die gleichnamige Publikation ist am Fotofestival erhältlich.
Catherine Leutenegger beschäftigt sich in «New Artificality» mit den Zukunftsaussichten des 3D-Drucks
Auch das Schloss Lenzburg, unübersehbares Wahrzeichen der Stadt, ist wiederum ins Ausstellungskonzept mit einbezogen worden. Die Genfer Fotografin Catherine Leutenegger zeigt im Bernerhaus des Schlosses eine Kostprobe ihres Langzeitprojekts «New Artificality» auf drei LED-Screens, an welchem Sie bereits seit sieben Jahren arbeitet. Dabei interessiert sie sich vor allem für die Anwendungsmöglichkeiten des 3D-Drucks, dessen rasante technologische Entwicklung in immer mehr Branchen Einzug hält, angefangen vom Bauwesen bis hin zur Medizinaltechnik. Noch ist nicht abzusehen, ob diese Neuerungen der digitalen Technologien in der Lage sein werden, nachhaltige und dringend benötigte Lösungen für die aktuellen Herausforderungen der Menschheit und unseren Planeten zu liefern.
Ingar Krauss. zeigt in «Die Solitären» zeigt Menschen, die auf sich alleine gestellt sind
Ebenfalls im Bernerhaus sind die Bilder zum Thema «Die Solitären» des in Ostberlin aufgewachsenen Ingar Krauss. In seiner Arbeit widmet er sich den sogenannten «alten weissen Männern», die alleine und oft sehr isoliert im dünn besiedelten Nordosten Deutschlands leben, der vor allem von Natur- und Agrarlandschaft geprägt ist. Es ist definitiv nicht die romantisierte Welt des neuen «Landlebens», sondern die harte Realität eines aus der Zeit gefallenen und aus der Sichtbarkeit verdrängten Teils der Gesellschaft.
Die Besten des Sony World Photography Awards
Im Park des Schlosses ist ein Teil der prämierten Bilder der Sony World Photography Awards zu sehen, von denen weitere den Schlossweg zieren. Es ist einer der wichtigsten Wettbewerbe des globalen Fotokalenders, dessen Free-to-enter Awards eine internationale Stimme für die Fotografie darstellen und einen wichtigen Einblick in die zeitgenössische Kunst von heute bieten. Die Awards würdigen zusätzlich die einflussreichsten Künstler der Welt, die in diesem Medium arbeiten, durch die Outstanding Contribution to Photography Awards. Zu den früheren Preisträgern zählen Martin Parr, William Eggleston, Mary Ellen Mark, Candida Hofer, Nadav Kander und Graziela Iturbide.
«Venuses» von Laurence Rasti will die Geschlechteridentität ausloten
Im Kellergewölbe der Villa des Müllerhauses sind vier verschiedene künstlerische Positionen zu sehen: Zur Realisierung der Serie «Venuses» hat Laurence Rasti aus Lausanne zwei ihrer Freundinnen – Shaya, eine iranische Transfrau, die sie in der Türkei kennengelernt hatte, sowie Lena, ihre Nachbarin in Genf –, gebeten Protagonistinnen ihres Langzeitprojekts zu werden. Ziel war die Tiefen der Geschlechtsidentität auszuloten, insbesondere der Weiblichkeit, wozu sie Bilder mit Texten in Form von Interviews kombinierte. Im Laufe des Projekts erfuhr Lena, dass sie an Brustkrebs erkrankt war. Was mit einer scheinbar grundlegenden Prämisse begonnen hatte, nämlich der Frage, was ist eine Frau, wurde plötzlich sehr viel komplexer, herausfordernder und schmerzhafter, da beide Protagonistinnen mit ihren Körpern darum rangen, widerzuspiegeln, als wen sie sich fühlten.
«Jökull, The Memory of Glaciers» von Sandrine Elberg ist eine Hommage die Gletscher Islands
Die Position «Jökull, The Memory of Glaciers» von Sandrine Elberg ist eine Hommage an das Erhabene, an Islands Gletscher mit ihren Verwerfungen, Narben, Wirbeln, Mulden und Spalten. Sandrine Elbergs Porträt der Gletscher unter dem Mond- und Sternenhimmel der Insel lädt uns ein, uns diese Eismonolithen als Ressourcen (wahrscheinlich) ausserirdischen Ursprungs vorzustellen, um Vergleiche zwischen den Kräften zu ziehen, die unseren Planeten innerhalb geologischer Zeiträume formen.
Menschen, denen das Land wegschwimmt in «The Sea Moves, The Sea Moves» von Antonio Pérez
In «The Sea Moves, The Sea Moves» konfrontiert uns Antonio Pérez mit Menschen, welche die direkten Konsequenzen des Klimawandels zu spüren bekommen, da ihre Wohnorte der Küstenerosion eines steigenden Meeresspiegels zum Opfer fielen. Seine Bilder zeigen Szenen der Zerstörung während sie uns gleichzeitig in Porträts auch die Betroffenen nahebringen. Sie unterstreichen, wie absolut die Bedingungen sind, die ein Umsiedeln und einen Neubeginn erfordern.
«Wata Na Life» zum Wassermangel in Sierra Leone von Ngadi Smart
In «Wata Na Life» setzt sich Ngadi Smart mit der globalen Wasserkrise auseinander und untersucht dabei insbesondere den Zusammenhang zwischen Klimawandel und Wasser in ihrem Herkunftsland Sierra Leone. Sie schichtet verschiedene Realitäten des Themas in Einzelbildern übereinander und erschafft so eine Collage der Wirkung, die wahrer erscheint als rein dokumentarische Darstellungen. In ihrem Werk wird das Wasser wirklich zu einem Element und einer Ressource, nicht nur zu einem Thema.
Fridolin Walcher befasst sich mit der Eisschmelze in Grönland und Glarus
Auf dem Schlossplatz zeigt Fridolin Walcher unter dem Titel «Eisschmelze in Grönland und Glarus» Bilder der Schweizer Grönlandexposition von 2018 (Fotointern Top Story). Zusammen mit Eis- und Klimaforschern reiste er über Forschungsstationen auf dem Inlandeis bis hinauf zum Humboldt- und zum Petermannsgletscher auf über 81 Grad Nord. Anschliessend an die Expedition blieb er zurück in einem der nördlichsten Dörfer Grönlands und teilte mit den Menschen von Kullorsuaq während eines Monats das Leben beim Jagen und Fischen.
Henri Blommers fotografische Eindrücke unserer Flora und Fauna
Der niederländische Künstler Henri Blommers ist der erste Artist in Residence des Fotofestivals Lenzburg. Er hat während drei Wochen im Dezember 2021 einen Grossteil seiner Zeit in den Wäldern und Wiesen von und um Lenzburg verbracht, um die lokale Flora zu fotografieren und verschiedene Proben zu sammeln. Von besonderem Interesse sind für ihn jene Schnittflächen in der Natur, wo sie zu bewirtschafteten und kultivierten Naturressourcen werden, und wo einheimische Pflanzenarten bedroht sind. Sein analoger fotografischer Prozess wird durch die Beobachtungen, die er vor Ort macht, und durch ein tiefes Gefühl der Dringlichkeit in Bezug auf unsere Umwelt beeinflusst – physisch, chemisch und konzeptionell.
Im Stadtmuseum Aarau: «Und jetzt? — Lunax im Klimawandel»
Auch die Ausstellung des Lunax-Fotokollektivs im Stadtmuseum Aarau ist Teil des Fotofestival Lenzburg. Unter dem Titel «Und jetzt? — Lunax im Klimawandel» führen die aktuell 15 Mitgliederunterschiedliche fotografische Positionen zu Themen, wie ökologisches Leben, Biodiversität, nachhaltige Mode, Gletscherschmelze, Naturverbundenheit, CO2-Ausstoss, globalisierter Konsum, Fliegen, Stadtbäume und Plastik. Seit Frühjahr 2021 arbeiten Severin Bigler, Sabina Bobst, Annette Boutellier, Daniel Desborough, Raisa Durandi, Patrick Hürlimann, Benjamin Manser, Caroline Minjolle, Marion Nitsch, Katja Schmidlin, Fridolin Walcher, Dominic Wenger und Marco Zanoni an einem gross angelegten gemeinsamen Projekt zum Thema Klimawandel.
Das Rahmenprogramm
Um die Kultur des Fotobuchs zu zelebrieren, richtet das Fotofestival Lenzburg an verschiedenen Standorten der Stadt gemütliche Fotobücherecken ein und möchte so zum Stöbern, Kennenlernen und Vertiefen einladen. Die Bücher werden jedes Jahr im Anschluss des Festivals der Stadtbibliothek gespendet, in der die Büchersammlung des Fotofestivals verfügbar ist. Allen Leselustigen steht sie dort das ganze Jahr über zur Verfügung.
Letztes Jahr war eines der Programmpunkte in der Kultkabine am Kronenplatz zu finden. Dort können Lenzburger/innen die Postkarten, die das Festival zusammen mit dem Autor Henri Blommers und der Autorin Catherine Leutenegger produziert hat, in die ganze Welt verschicken.
Zum dritten Mal organisiert das Fotofestival einen Fotomarathon: Die teilnehmenden Fotograf/innen sind am 3. September 2022 eingeladen, Lenzburg zu entdecken und nach dem am selben Tag bekannt gegebenen Thema zu fotografieren und am Wettbewerb für die besten Fotos teilzunehmen. Die Sponsoren des Festivals stellen verschiedene Preise zur Verfügung, und die Gewinner werden während der Finissage am 1. Oktober 2022 im Stapferhaus ausgezeichnet.
Mit Autor/innen-Führungen, Workshops, Portfolioreviews, Vorträgen und begleitenden Veranstaltungen bietet das Festival zahlreiche Möglichkeiten der Begegnung und Vermittlung zwischen Teilnehmenden und einem breiten Publikum.
Das Fotofestival Lenzburg dauert noch bis 2. Oktober 2022.
Weitere Informationen und die vollständige Agenda finden Sie hier
Stimmungsfotos: Urs Tillmanns und Olivier Vermeulen