Im Schweizer Kameramuseum in Vevey ist noch bis 20. August 2023 die Ausstellung zum Leben und Wirken von Rodolphe Archibald Reiss zu sehen, der an der Universität Lausanne neue Methoden zur Kriminaltechnik entwickelte und ein entsprechendes Institut gründete.
Die Kriminaltechnik ist ein sehr spezieller Bereich der Fotografie, wo mit hochentwickelten Untersuchungsmethoden eine Textilfaser, oder heute sogar eine DNA, darüber entscheiden kann, ob jemand für ein Verbrechen schuldig oder unschuldig gesprochen wird. Ein Pionier dieser Grundlagenforschung war Rodolphe Archibald Reiss (1875-1929), der an der Universität Lausanne die weltweit erste Schule für Kriminaltechnik gründete. Das Schweizer Kameramuseum widmet diesem international anerkannter Kriminalisten nun eine Ausstellung und zeigt einmalige uns aussagekräftige Exponate.
Rodolphe Archibald Reiss in der Art der damaligen Arrestantenfotos aufgenommen von Alphonse Bertillon in Paris um 1900. Copyright: UNIL, fotografische Sammlung Reiss
Rodolphe Archibald Reiss wurde 1875 auf Gut Hechtsberg in Sulzbach, Deutschland, geboren und schrieb sich mit 18 Jahren an der Universität Lausanne für ein Chemiestudium ein. 1898 erlangte er den Doktortitel in Naturwissenschaften und nahm 1901 die Schweizer Staatsbürgerschaft an. Als begeisterter Fotograf war er Redakteur zweier fotografischer Zeitschriften («Journal Suisse des Photographes» von 1900 bis 1909, «Revue Suisse de Photographie» von 1902 bis 1906), in denen er mehrere Artikel im Zusammenhang mit den chemischen und technischen Verfahren der Fotografie verfasste.
Rodolphe Reiss in seinem Büro an der Universität Lausanne. Copyright: UNIL, fotografische Sammlung Reiss
Bereits Ende des 19. Jahrhunderts machte Reiss von seiner Leidenschaft Gebrauch. Er wurde Leiter der fotografischen Arbeiten an der Universität Lausanne und interessierte sich nach und nach für die medizinische und wissenschaftliche Fotografie. Dann weitet er sein Interesse auf die gerichtliche Anwendung der Fotografie aus. Um 1900 absolvierte der junge Mann ein Praktikum beim Leiter des Erkennungsdienstes der Pariser Polizeipräfektur: Alphonse Bertillon. Bertillon, ein französischer Experte für Kriminalistik und Begründer der forensischen Anthropometrie oder Bertillonnage (ein Identifizierungssystem, das auf einer bestimmten Anzahl von Knochenmassen beruht), führte Reiss in das gesprochene Porträt und die Verfahren der Signalfotografie ein.
Ab 1902 hielt Reiss Vorlesung über die gerichtliche Anwendung der Fotografie an der Universität Lausanne, worauf er 1906 vom Staatsrat des Kantons Waadt zum ausserordentlichen Professor für wissenschaftliche Fotografie mit Anwendung auf gerichtliche Untersuchungen ernannt wurde. Danach wurde 1909 die wissenschaftliche Polizeiarbeit offiziell als akademische Disziplin anerkannt, als Reiss das Institut für wissenschaftliche Polizeiarbeit an der Universität Lausanne (heute «École des Sciences Criminelles») gründete.
Daktyloskopische Untersuchen mit der Fotografie von Fingerabdrücken auf einem Wecker. Copyright: UNIL, fotografische Sammlung Reiss
Die Ausstellung wurde in Zusammenarbeit mit der Schule für Kriminalwissenschaften der Universität Lausanne realisiert und zeigt die fotografischen Methoden von Reiss, die auf Tatorte, Waffen von Mördern, Tätowierungen, Fingerabdrücke oder gefälschte Dokumente angewendet wurden. Mithilfe seiner wissenschaftlichen Kenntnisse gelang es dem Kriminalisten und Fotografen, latente oder mit dem blossen Auge kaum erkennbare Spuren deutlich sichtbar zu machen.
Reiss nutzte eine Vielzahl von Verfahren: Farbfilter, direktes Licht, Streiflicht oder reflektiertes Licht, spezielle Entwicklungsverfahren in der Dunkelkammer, Mikroskope und Fotoausrüstungen, die nach seinen eigenen Empfehlungen entwickelt wurden. Reiss machte das Unsichtbare sichtbar und verfolgte damit nur ein Ziel: durch die systematische Untersuchung von materiellen Spuren bei der Wahrheitsfindung zu helfen.
Die Ausstellung zeigt einmalige Fotos des Kriminologen Rodolphe Reiss im Grossformat. (Foto: David Schenker)
In der Ausstellung werden die Instrumente präsentiert, die Reiss vor einem Jahrhundert verwendete, mit ihren Pendants, die heute in der forensischen Wissenschaft eingesetzt werden. Sie zeigt die persönlicheren Fotografien des Wissenschaftlers, sowie auch wunderschöne Autochromaufnahmen. Außerdem bietet sie interaktive Workshops, ein umfangreiches Vermittlungsprogramm für Jung und Alt, ein Rätsel, das im Museum gelöst werden muss, und Treffen mit Experten aus der Kriminalwissenschaft.
In der Ausstellung haben die Besucherinnen und Besucher die Möglichkeit selbst kriminaltechnische Experimente durchzuführen. (Foto: David Schenker)
Ziel der Ausstellung und Wunsch der Universität Lausanne ist es, ihr institutionelles Erbe einem möglichst breiten Publikum zugänglich zu machen. Am Ende einer mehrjährigen Arbeit wurde der fotografische Nachlass von Rodolphe Archibald Reiss vollständig inventarisiert und digitalisiert. Er ist nun in das Portal der digitalen Sammlungen der Universität Lausanne integriert und bietet freien Zugang zu einem einzigartigen Kulturerbe.
Die Abschnitte der Ausstellung
Historischer Teil
1. Einführung
2. Die Fotografie von Orten und Körpern
3. Spuren von Werkzeugen: der Fall Seewer
4. Die Spuren von Schusswaffen: der Fall Jacquet in Orges.
5. Die Begutachtung von Banknoten: der Fall Friedrich.
6. Die Fotografien von Tätowierungen
7. Die Fotografien von Fingerabdrücken
8. Die Fotografien von Dokumenten
9. Die Mikrofotografie
Zeitgenössischer Teil
1. Papillarspuren: selektive Absorption und Photolumineszenz.
2. Die Fotografien von Werkzeugen, 3D-Spuren oder Munitionselementen.
3. Die Analyse von Dokumenten
4. Der Vergleich von Hülsen und Geschossen
Während des Ersten Weltkriegs reiste Reiss nach Serbien und widmete sich dort der Dokumentation und Anklage von Kriegsverbrechen der österreichisch-ungarischen Armee. Im Jahr 1919 trat Reiss endgültig aus dem Institut aus und lebte bis zu seinem Tod 1929 nach Belgrad.
Die Ausstellung ist noch bis 20. August 2023 zu sehen im
Schweizer Kameramuseum, Grande Place 99, CH-1800 Vevey
Tel. 021 925 34 80, www.cameramuseum.ch
Geöffnet Dienstag bis Sonntag von 11 Uhr bis 17.30 Uhr