Gleichzeitig zur Ausstellung «Flou» (Unschärfe) im Photo Elysée ist im Delpire-Verlag ein umfassendes Buch zum Thema erschienen, das mehr als nur Katalog ist. Mehrere Autoren befassen sich mit diesem Phänomen, das Fehler als auch Gestaltungsmittel in verschiedensten Epochen ist.
In den wohl meisten Fällen wird für eine Fotografie optimale Schärfe vorausgesetzt. Ist das Foto unscharf, wird dies als fehlerhaft und als «unbrauchbar» gewertet. Und doch waren Schärfe und Unschärfe schon immer auch grundlegende Gestaltungsmittel. Mit der Grösse der Blende können wir die Ausdehnung des Schärferaumes bestimmen (Schärfentiefe) und das scharfe Hauptmotiv vor einem unscharf zerfliessenden Hintergrund betonen. Blicken wir in vergangene Epochen zurück, so stellen wir fest, dass die Unschärfe selbst immer wieder als bildwirksames Element genutzt wurde – eine Zeiterscheinung, die gerade auch in der Gegenwart wieder auflebt.
Pauline Martin, Kuratorin von Photo Elysée, hat sich intensiv mit der Unschärfe in Malerei und Fotografie auseinandergesetzt und zu diesem Thema eine Ausstellung mit mehr als 400 Bildbespielen gestaltet, die noch bis 21. Mai 2023 in Lausanne zu sehen ist. Dazu ist ein mehr als 300-seitiges Buch erschienen, welches nicht nur Ausstellungskatalog ist. Es beschreibt 12 verschiedene Arten und Epochen von Unschärfe, zeigt über 280 treffende Bildbeispiele dazu und lässt in acht lesenswerten Aufsätzen renommierte Autoren zu Wort kommen.
Wie auch die Ausstellung beginnt das Buch mit Beispielen aus der Malerei (Flou pictural) die deutlich unscharf gemalte Bildpartien zeigen. Dann folgen im Kapitel «Ambivalente Unschärfe im 19. Jahrhunderts» vorwiegend Kalotypien, die sowohl verfahrensbedingte Unschärfen als auch Bewegungen zeigen, gefolgt von der Epoche des Piktorialismus, der Zeit von ca 1895 bis 1910, in der die Fotografie mit Weichzeichnung und verschiedenen Edeldruckverfahren möglichst gemäldeähnlich wirken sollte. Ein weiteres Kapitel ist der Bewegungsunschärfe («flou de mouvement») gewidmet, bei welcher Pauline Martin sogar Beispiele aus der Bildhauerei anführt und diese auch in der Ausstellung zeigt. In der Sektion «Flou amateur» gehen Buch und Ausstellung auf Amateuraufnahmen ein, die mehr oder weniger unscharf einen besonderen Bildeffekt erzielen oder einen hohen dokumentarischen Wert haben. Dies gilt auch für den Bereich der Cinématografie («le flou au cinéma» und «le flou narratif au cinéma»), wo das bewegte Bild durch spezielle Unschärfeeffekte wirkt. Weiter folgt die wissenschaftliche und die experimentelle Fotografie, wo Objekte aus technischen Gründen nicht schärfer abgebildet werden können («flou scientific») oder wo die Unschärfe bewusst als Stilmittel eingesetzt wird («flou éxperiental des avant-garde»). Auch in der kommerziellen-, namentlich Porträtfotografie der 1920er- und 1930er-Jahre («flou commerciale») wird die Unschärfe als wichtiges Gestaltungsmittel eingesetzt, nicht zuletzt auch, um harmonischere Hauttöne zu erzielen (Weichzeichnung). In dieser Zeit wird auch mit sich bewegenden und deshalb unscharf gezeigten Objekten experimentiert («flou de la modérnité» und «flou subjectif») wo unscharf abgebildete Objekte den Blick des Betrachters auf sich lenken. Auch in der zeitgenössischen Fotografie («flou contemporain») findet sich die Unschärfe wieder vermehrt als kreatives Stilmittel, um in den Bildern eine spezielle, effektvolle Stimmung zu erzeugen.
Mit dem Buch hat Pauline Martin eine ganz besondere Art von «Geschichte der Fotografie» geschrieben, in der sie das Phänomen der Unschärfe in allen Epochen beleuchtet und dabei mehrere Autoren mit aufschlussreichen Zitaten und Abhandlungen dazu einlädt.
Für wen ist dieses Buch? Die Tatsache, dass es dieses Buch nur auf Französisch gibt, wird den Leserkreis in unserem Sprachgebiet stark einschränken. Dennoch dürfte es eines der wichtigsten Bücher zur Geschichte der Fotografie werden, da das Phänomen der Unschärfe bisher kaum so umfassend und so präzise illustriert abgehandelt worden ist.
Urs Tillmanns
Buchbeschreibung des Verlages
Ist ein unscharfes Foto ein misslungenes Foto? In der Fotografie hat die Unschärfe die Besonderheit, dass sie sowohl der grundlegendste Fehler ist, den es zu vermeiden gilt, als auch eine extrem schwer zu erzielende Form – zwischen primären technischen Fehlern und künstlerischen Ambitionen.
Pauline Martin hatte die ausgezeichnete Idee, uns durch die Geschichte der Fotografie zu führen, von der Erfindung des Unschärfeverfahrens bis heute. Dabei wird man entdecken, dass die Unschärfe je Unschärfe der Modernenach Epoche mal als positiver, mal als negativer Wert angesehen wurde. In einer historisch-thematischen Entwicklung erzählen die gezeigten Werke von der Entwicklung dieser Form, deren Verwendung sich je nach Epoche und Praxis ständig verändert hat, sei es im Amateurbereich, in der Kunst, in der Wissenschaft oder in der Reportage.
Das mit Zitaten gespickte Buch schafft einen Dialog zwischen den Bildern und der Art und Weise, wie die Unschärfe von so unterschiedlichen Autoren und Künstlern wie Charles Baudelaire, Julia Margaret Cameron oder Pierre Bourdieu beschrieben wurde, und macht so die Herausforderungen der Unschärfe in der Wahrnehmung der Welt geltend. Denn wie Serge Tisseron in seinem Text betont: «Wenn uns der schnelle Wandel der Welt ängstlich macht, werden wir wahrscheinlich scharfe, stabile Bilder bevorzugen. Wenn uns hingegen eine gewisse Starrheit um uns herum Angst macht (…), werden wir Bewegung, das Streben nach Zukunft bevorzugen».
Einleitend erzählt der Text von Pauline Martin die Geschichte der Unschärfe, ein Begriff, der ursprünglich einer bestimmten malerischen Praxis gewidmet war, bevor er die Bedeutung annahm, die wir kennen. Ihre Expertise wird durch vier Texte ergänzt: Martin Barnes beschäftigt sich mit der Aufwertung der Unschärfe im 19. Jahrhundert in Grossbritannien; Martine Beugnet befasst sich mit den Anfängen des Kinos; wenn Florian Ebner und Michel Poivert sich jeweils auf die 1980er Jahre in Deutschland und die zeitgenössische Praxis konzentrieren. Ein persönlicher Beitrag von Sébastien Lifshitz und ein Interview mit Serge Tisseron vervollständigen dieses Nachschlagewerk.
Inhalt (Sommaire)
«Une histoire de flou» par Pauline Martin
Flou pictural
Flou ambivalent au XIXe siècle
«Une mise au point britannique» par Martin Barnes
Flou pictorialiste
Flou scientifique
Flou de mouvement
Flou amateur
«Ma vie en flou» par Sébastien Lifshitz
«Le flou au cinéma» par Martine Beugnet
Flou narratif au cinéma
Flou commercial
Flou expérimental des avant-gardes
Flou de la modernité
«Le ’nouveau flou allemand’» par Florian Ebner
Flou subjectif
«L’image invisible» par Michel Poivert
Flou contemporain
«Le flou: pari d’un devenir» Entretien avec Serge Tisseron
Lexique
Postface par Nathalie Herschdorfer
Annexes
Die Herausgeberin
Pauline Martin ist Doktorin der Kunstgeschichte und verantwortliche Kuratorin für Ausstellungen bei Photo Elysée (Lausanne). Sie hat unter anderem «L’Évidence, le vide, la vie» (Die Evidenz, die Leere, das Leben. Die Fotografie im Angesicht ihrer Lücken) (Ithaque, 2017) und «L’Œil photographique de Daniel Arasse. Anonymität von heute. Kleine fotografische Grammatik des städtischen Lebens» (Fage éditions, 2012) publiziert. Ausserdem war sie Kuratorin der Ausstellungen «reGeneration4. Die Herausforderungen der Fotografie und ihres Museums für morgen» (2020) und «Anonymats d’aujourd’hui. Kleine fotografische Grammatik des städtischen Lebens» (2016).
Bibliografie
Pauline Martin: «Flou. Une histoire photographique»
336 Seiten mit 282 Schwarzweiss- und Farbfotos, gebunden, broschiert mit Schutzumschlag, Format 20 x 27,5 cm
Sprache: Französisch
Erscheinungsdatum: 2. März 2023
Herausgeberin Pauline Martin
Texte von Martin Barnes, Martine Beugnet, Florian Ebner, Sébastien Lifshitz, Pauline Martin, Michel Poivert und Serge Tisseron, Nachwort von Nathalie Herschdorfer
Co-Edition Delpire & Co und Photo Elysée
Preis: CHF 55.00 / EUR 49,00
ISBN: 979-10-95821-58-8
Das Buch kann im Buchhandel bestellt, direkt beim Verlag (in Frankreich) geordert oder im Shop von Photo Elysée bezogen werden.
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• «Unschärfe, Lippmann und Parfums – drei Highlights im Photo Elysée» Fotointern 03.03.2023