Eugen Thierstein gehört nicht zu den bekanntesten Schweizer Fotografen. Er hat in den 1930er- bis 1950er-Jahren vor allem das Strassenleben der Stadt Bern fotografiert. Jetzt rufen ein Buch und eine Ausstellung im Burgerspittel sein wichtiges dokumentarisches Lebenswerk in Erinnerung.
Wenn es solche Bücher nicht gäbe, und die Ausstellungen dazu, dann würden Fotografen, wie Eugen Thierstein, schnell in Vergessenheit geraten. Dabei sind seine Bilder nicht nur als zeithistorische Dokumente interessant, sondern sie zeigen uns, wie damals mit einfachsten technischen Mitteln – meistens einer Rolleiflex wahrscheinlich mit Lichtstärke 3,5, 80 mm Brennweite und einem 100 ISO-Film – hervorragende Bilder entstanden sind. Nicht die Technik ist wichtig, sondern das Motiv, das Licht und die Gabe des Fotografen den entscheidenden Moment zu erwischen; dies harmonisch ins Bildformat gestaltet, korrekt belichtet und dort scharf, wo das Bild scharf sein muss.
Eugen Thierstein war ein erfolgreicher Fotograf – aber reich wurde er nicht dabei. Zusammen mit seiner Frau Getrud, die aus der Fotografenfamilie Jansky und die er an der Fotoschule in Vevey kennenlernte, betrieb er ein Fotogeschäft in Bern mit bis zu acht Angestellten. Porträts, Passbilder und das Entwickeln von Filmen war wohl das wichtigste Tagesgeschäft des Unternehmens, was von seinen Mitarbeitenden abgewickelt wurde, während sich der Patron den Reportagen widmete, den Strassenszenen, den Arbeitsdokumentationen und den zufälligen Augenblicken. Ob im Auftrag oder auf freien Stücken – wir wissen es nur in wenigen Fällen, von Bildern, die in Tageszeitungen und Illustrierten publiziert wurden.
Wir würden es heute als «Streetphotography» bezeichnen, wofür Thierstein bekannt ist, mit dem Unterschied, dass dies früher alles viel einfacher war. Es gab noch kein «Recht am eigenen Bild», keine Erlaubnispflicht für das Fotografieren von Personen und entsprechende Veröffentlichungen. Kommt hinzu, dass Thierstein offensichtlich sehr schnell und unbemerkt gearbeitet hat und mit seiner Rolleiflex in Hüfthöhe kaum aufgefallen ist.
Die Bilder von Eugen Thierstein haben heute Seltenheitswert und zeigen Berner Strassenszenen in der Krisenzeit vor und in den Jahren des Zweiten Weltkriegs. Viele Leute waren arm und deckten sich an den Marktständen mit dem Nötigsten ein. Frauen arbeiteten auf dem Feld und im Hof oder in den Industrie- und Gewebebetrieben, weil ihre Männer im Aktivdienst waren und das Geld kaum reichte, um die kinderreichen Familien zu ernähren. Thierstein zeigt uns, wie diese Leute lebten, zeigt uns Szenen, die wir uns heute kaum noch vorstellen können, in Berufen oder bei handwerklichen Tätigkeiten, die längst verschwunden sind. Weiter nahm die tagesaktuelle Berichterstattung in Politik und beim Militär einen bedeutenden Stellenwert in Thiersteins Schaffen ein mit den Bildern, welche die Hürde der strengen behördlichen Zensur geschafft hatten. Thiersteins Bilder sind geradlinig und unmissverständlich, bis ins letzte Detail perfekt gestaltet. Sie versetzen uns in eine Zeit zurück, an die sich immer weniger Leute noch erinnern können.
Im Textteil des Bildbandes geht Bernhard Giger, der frühere Leiter des Kornhausforum Bern, auf das Leben und das Werk von Eugen Thierstein ein und vermittelt dabei viele interessante Einzelheiten zum Leben und Schaffen des Berner Fotografen. In einem zweiten Textteil, der allerdings keinen direkten Bezug zu Thierstein hat, erklärt Philipp Stämpfli als wissenschaftlicher Archivar der Burgerbibliothek Bern die Bedeutung der Digitalisierung von Fotos für die moderne Bildarchivierung.
Für wen ist dieses Buch? In erster Linie für geschichtlich interessierte Leserinnen und Leser, welche Interesse an der Vergangenheit und an der damaligen fotografischen Arbeitsweise aufbringen und sich für die Person und das Schaffen von Eugen Thierstein interessieren. Weiter ist das Buch als Katalog zur erwähnten Ausstellung dienlich und dürfte auch jene Leute begeistern, die Freude an Ansichten des Alten Bern haben.
Urs Tillmanns
Buchbesprechung des Verlages
Eugen Thierstein (1919-2010) arbeitete von Anfang der 40er-Jahre bis Mitte der 60er-Jahre als selbständiger Fotograf mit eigenem Atelier in Bern. Seine Ausbildung hatte er beim bedeutenden Fotografen Hans Steiner absolviert, anschliessend besuchte er die Fotoschule in Vevey. Sein Hauptgeschäft waren Reportagen für Zeitschriften und Zeitungen und die Hochzeitsfotografie. Das Besondere an Eugen Thiersteins Fotografien ist sein Blick für das scheinbar Unscheinbare und das Menschliche: Er fotografierte Berühmtheiten, Politiker und Models und dokumentierte die Arbeit in Fabriken, in der Landwirtschaft oder in Handwerksbetrieben ebenso wie sozial Schwache, Frauen und Kinder. Der Nachlass von Eugen Thierstein befindet sich in der Burgerbibliothek Bern.
Der Inhalt
Vorwort
«Auf Augenhöhe mit dem Leben» von Bernhard Giger
Zwischen Diskretion und Neugier / Die Frau hinter Montgomery
«Digitalisierte Bilder: ein Service für die Allgemeinheit» von Philipp Stampfli
Grundsätzliche Überlegungen / Koordination von Digitalisierung und Erschliessung / Erhalt der Originale / Spezielle Herausforderung: historische Bilddokumente / Online-Nutzung: kein Digitalisat ohne Metadaten / Digitalisierung als Chance für bessere Metadaten und höhere Nutzung
Bildlegenden
Übersicht Buchreihe «Passepartout»
Der Fotograf
Eugen Thierstein (1919 – 2010) besuchte die Schulen in Bern und absolvierte von 1935 bis 1938 die Fotografenlehre bei Hans Steiner in Bern, als dessen erster Lehrling. Er besuchte zudem die Fotoschule in Vevey, wo er auch seine spätere Frau Gertrud Jansky kennenlernte. Er war ab ca. 1943 als selbständiger Fotograf in Bern tätig. Nach der Heirat mit Gertrud Jansky (1925 – 1979, Tochter des Fotografen Rudolf Jansky) im April 1948, betrieb das Paar ein Fotogeschäft und -atelier an der Amtshausgasse 8 in Bern. Ab 1951 lief das Geschäft unter der Firma Thierstein & Co. bzw. Mikrofilm Bern, Thierstein & Co.. Mikrofilmaufnahmen und der Vertrieb von Mikrofilmgeräten und Zubehör wurden zunehmend zum Hauptgeschäftszweig. Das Geschäft beschäftigte zeitweise bis zu acht Mitarbeiter/innen und zog mehrmals um, zuletzt nach Köniz bei Bern. (Quelle: Foto-ch.ch)
Die Autoren
Bernhard Giger, Fotograf, Filmemacher und Journalist, bis 2020 Leiter des Kornhausforum Bern
Philipp Stämpfli, Historiker und wissenschaftlicher Archivar an der Burgerbibliothek Bern.
Hinweis: Eine Ausstellung im Burgerspittel im Viererfeld – kuratiert von Bernhard Giger und in Zusammenarbeit mit der Burgerbibliothek Bern – zeigt noch bis 23. Juli 2023 eine Auswahl von Thiersteins Fotografien. Weitere Infos
Bibliografie
«Eugen Thierstein, Fotograf: Den Menschen im Bild»
112 Seiten, 85 Bilder, gebunden, Fadenheftung, Broschur mit
Umschlag-Einklappseiten, Format 20 x 25 cm
Erschienen in der Reihe «Passepartout» der Burgerbibliothek Bern
Verlag Stämpfli Bern
Preis: CHF 35.00
ISBN 978-3-7272-6161-9
Das Buch kann im Buchhandel bestellt, direkt beim Verlag geordert oder in der Burgerbibliothek Bern gekauft werden.