Die Ausstellung im Museum «Art Brut» in Lausanne befasst sich mit einem ungewohnten Aspekt der Fotografie. Es sind Bilder und Objekte zu sehen, die zur persönlichen Erinnerung zweckentfremdet worden sind und so als unikate Kunstwerken ihre eigene, meist intime Foto-Geschichte erzählen.
Die Fotos in der Ausstellung, die in 20 Kategorien unterteilt ist, verblüffen, weil sie alle manuell bearbeitet in einer anderen Form einem anderen Zweck zugeführt worden sind. Die meisten davon sind anlässlich von Familienfesten oder auf Ferienreisen entstanden und wurden über Jahre als geliebte Erinnerungen sorgsam behütet. Doch im Laufe der Zeit mögen sich die Familienverhältnisse und persönlichen Beziehungen verändert haben, man hat sich getrennt, man will vergessen oder es sind neue Freunde hinzugekommen – und so sind auch die Fotos den neuen persönlichen Situationen angepasst worden. Mit Papiermesser oder Schere ist man den einzigen Fotos zu Leibe gerückt, hat weggeschnitten was nicht mehr passte und hinzugekleistert was man zusammengefügt haben wollte: «Photomachinées» sind entstanden. Unikate, die nicht schön sein mussten, sondern die einen neuen, ganz persönlichen, oft intimen Erinnerungswert bekamen.
Im Museum Art Brut in Lausanne sind mehr als 450 «Photomachinées» zu sehen. Jedes davon ist ein Unikat, mit dem ein ganz besonderer, individueller Erinnerungswert verfolgt worden war
Die Ausstellung ist in 20 Kategorien unterteilt und zeigt alle Aspekte der zweckentfremdeten und persönlichen Fotografie
Die 452 Bilder, welche die Sammlung Photomachinées bilden, sind das Ergebnis einer langen und sorgfältigen Suche zweier leidenschaftlichen Sammler auf Flohmärkten und bei Trödlern. Über die Herkunft der Bilder ist nichts bekannt, und die Namen der abgebildeten Personen sind längst in Vergessenheit geraten.
Weder ganz Fotografien noch ganz Objekte, sind diese Bilder alle verwerkelt worden, mit dem Ziel, die Funktion der ursprünglichen Fotografien den eigenen Vorlieben und Empfindungen anzupassen. Die Motivationen für diese Zweckentfremdungen sind von sehr unterschiedlicher Natur und Absicht und oft nicht nachvollziehbar oder schwer zu erklären.
Diese meisten Kreationen sind in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden und die manuelle Technik verschwand mit dem Aufkommen der Digitalfotografie und der Papierbilder. Sie bilden einen Korpus, der von einfachen Scherenschnitten bis hin zu komplexeren Inszenierungen reicht und die Malerei, Zeichnungen, Stickerei, Collagen sowie andere Verfahren mit der Fotografie kombinieren.
Viele der Bilder sind sogenannte «Fotofusionen», bei denen Personen im Bild miteinander verbunden werden, die geografisch, zeitlich oder verwandtschaftlich voneinander getrennt leben – oder lebten. Es entsteht eine neue Kreation, die einen rein persönlichen emotionalen Wert hat und für andere Betrachter skurril und unwirklich wirkten mag.
Die Ausstellung, sowie auch das dazu erschienene Buch, ist in verschiedene Kategorien unterteilt, die sich auf Themen und Praktiken beziehen, die innerhalb der anonymen Fotografie zu finden sind. Dabei haben die beiden Sammler sprachliche Neuschöpfungen verwendet, um diese Sammlung in Unterabschnitte zu gliedern, die meist mit der verwendeten Technik zusammenhängen (photencadrée, photofusionnée, photocaviardée usw.) oder manchmal auch mit der Beziehung, die der Autor des Bildes zu diesem hat (photofétichisée, photoadorée, photomiraculée) zuammenhängt.
Eine Vielzahl dieser Dokumente offenbart Ähnlichkeiten, die unabhängig von ihrer geografischen Herkunft und ihrer Produktionszeit originelle Zusammenstellung von Ensembles ermöglichen. Die Ausstellung ist somit in verschiedene Kategorien unterteilt, die auf Themen und Praktiken verweisen, die innerhalb der anonymen Fotografie zu finden sind.
Die Zweckentfremdung dieser Familienfotografien schafft eine Verwandtschaft mit den Kreationen der Art Brut-Autoren, die sich über alle künstlerischen Konventionen hinwegsetzen und alles, was ihnen in die Hände fällt, nach eigenem Gutdünken neu interpretieren, wobei sie die Vorbilder, die sie manchmal benutzen oder inspirieren, beliebig umdeuten.
Vor diesem Hintergrund fällt ein Zusammenhang zwischen diesen Photomachinées und der Art Brut auf. Diese emotionalen, teils lustigen und Bilder passen zum Ungewöhnlichen, Bizarren und Seltsamen der Art Brut, die meist von den Normen und gesellschaftlichen Konventionen abweicht und eigene Wege der Kreativität sucht. Der Bestand der Photomachinées wurde im Jahr 2021 von Antoine Gentil und Lucas Reitalov der Collection de l’Art Brut in Lausanne geschenkt und wird nun als fester Bestandteil ihrer Sammlung erstmals öffentlich ausgestellt.
Die Ausstellung ist noch bis 28. August 2023 zu sehen in der
Collection de l’Art Brut
11, av. des Bergières
CH-1000 Lausanne
Text und Situationsbilder: Urs Tillmanns
Das Buch zur Ausstellung
Zur Ausstellung ist ein Katalog auf Französisch und Englisch erschienenen, der die verschiedenen Kategorien und Techniken der zweckentfremdeten Bilder umfassend beschreibt. Das Buch ist reichhaltig illustriert und mit Texten von Antoine Gentil und Sarah Lombardi (dir.) versehen.
Photomachinées, Lausanne/ Milan, Collection de l’Art Brut/5 Continents Editions, 2022.
«Photomachinées»
184 Seiten mit 165 Abbildungen, gebunden, verstärkter Umschlag, Format 17.5 x 24 cm
mit Texten von Antoine Gentil und Sarah Lombardi (dir.)
Sprachen: Französisch oder Englisch
Verlag: 5 Continents Editions, Milano
Preis: CHF 45.00 / EUR 32.00
ISBN 978-88-7439-998-7
Im internationalen Buchhandel oder direkt beim Verlag zu bestellen, sowie im Shop der Collection Art Brut zu kaufen.
