Urs Tillmanns, 11. September 2023, 16:00 Uhr

Alt+1000: Vielfältige fotografische Themen in der Landschaft

Alt +1000 kehrt für seine 7. Ausgabe in den Neuenburger Jura zurück, an den Lac des Taillères bei La Brévine und in das Musée des Beaux-Arts (MBAL) in Le Locle. Die Ausstellungen von 17 internationalen Künstlerinnen und Künstlern ist noch bis zum 18. September 2023 zu sehen.

Die Symbiose von Fotografie und Landschaft kommt kaum anderswo so zur Geltung, wie bei den alle zwei Jahre stattfindenden Ausstellungen in freier Natur und in Höhen von mehr als 1000 Meter über Meer (Alt+1000). Auch dieses Jahr sind 17 fotografische Themen von internationalen Fotokünstlerinnen und Fotokünstlern zu sehen, die sich symbiotisch mit ihrer landschaftlichen Umgebung verbinden.

 

Vom Landschaftsbild zu den Landschaften

Die ausgewählten Projekte tragen zum Ziel des Festivals bei: Die Vorstellung von Landschaft, die hauptsächlich auf der Idee des Schönen und der Freizeit basiert, unter einem anderen Licht zu erfassen und die komplexen wirtschaftlichen, politischen, territorialen, soziologischen und emotionalen Beziehungen aufdecken, die sie prägen. Durch ihre Schönheit, aber auch ihre Fragilität, fordern uns die Landschaften, die uns umgeben, heraus. Mehr als 80 Werke säumen die beiden Festivalstandorte und werfen die Fragen auf, was sich uns als Landschaft präsentiert und was wir uns als Landschaften wünschen. Mit diesen Fragestellungen als roten Faden lädt die künstlerische Programmierung, die gemeinsam mit Hana Čeferin, Arianna Rinaldo und Pieter Jan Valgaeren, den drei Gastkuratoren dieser Ausgabe 2023, erstellt wurde, das Publikum ein, neue Horizonte zu erblicken.

Das «Café culturel» am Lac des Taillères ist ein Treffpunkt der Fotograf/innen, Buvette, Bibliothek und Ort der Workshops

Als eine Neuheit dieser 7. Ausgabe wird zur Alt+1000 der «Parc naturel régional du Doubs horloger français» miteinbezogen, um der Fotografin und Filmemacherin Laura Henno im Gebiet des Parks für eine Künstlerresidenz zu bieten. Über die Ausstellungen hinaus engagiert sich das Festival für die Künstler/innen und lädt ein, Fotografen zu treffen, zu Workshop-Spaziergängen oder einem Studio-Porträt. Zu den Highlights gehören kulturelle Cafés, eine Podiumsdiskussion im MBAL, eine musikalische Lesung in der Kapelle von Bémont und Führungen jeden Sonntag am Lac des Taillères.

 

Einige Highlights des Alt+1000

Émilie Brout und Maxime Marion (FR): «Le Tour du monde en instantané» (6)

Mit «Le Tour du monde» (Die Weltreise im Schnappschuss) vereinen Émilie Brout und Maxime Marion verschiedene Fotografien, die eine Objektivierung der Landschaft entlang eines bestimmten Meridians oder Parallelkreises der Erdkugel darstellen. Jedes Bild ist das Ergebnis der Fusion von Hunderten von Aufnahmen, die gemäss einem genauen Protokoll rund um die Erde mit Hilfe von Google Earth gemacht wurden. Diese Art von Durchschnittsbildern für jeden Achsenbereich zeigt eine Retina-Persistenz einer Welt, die man in einem Wimpernschlag umrunden könnte.

 

Anna Ridler (GB): «Laws of Ordered Form» (17)

Indem sie Tausende von Bildern, die in Enzyklopädien des 19. und 20. Jahrhunderts gefunden wurden, manuell klassifiziert, bietet Anna Ridler eine Reflexion über Humanismus, Inklusion, Technologie und Natur. Die Künstlerin und Forscherin zieht eine Parallele zwischen der Geschichte der Kategorisierung der Welt und der aktuellen Entwicklung von Datenbanken und künstlicher Intelligenz: Es handelt sich um Sammelsysteme, die versuchen, zu beschreiben, was unsere Welt ausmacht und entscheiden, was wichtig genug ist, um aufgezeichnet zu werden. Als bedeutendes Projekt, von dem hier ein Teil dem Landschaftsbild gewidmet ist, lenkt Laws of Ordered Form die Aufmerksamkeit darauf, wie historische Taxonomien und Überzeugungen immer noch moderne Implementierungen des maschinellen Lernens beeinflussen können, und betont die Voreingenommenheit von Datensätzen sowie die Probleme, die durch eine unüberlegte Klassifizierung entstehen können.

 

Ingrid Weyland (AR): «Topographies of Fragility» (16)

Für Ingrid Weyland war die Natur schon immer ein emotionaler Rückzugsort. Sie bereiste den Süden Argentiniens bis zur Gletscherkappe Grönlands auf der Suche nach Landschaften von besonderer Schönheit und Atmosphäre, fast surreal, wo die menschliche Präsenz kaum existent zu sein scheint. Bei einer Reise nach Island erkannte sie mit Traurigkeit die schweren Umweltschäden, die durch menschliche Aktivitäten verursacht wurden. Zurück zu Hause, erdachte sie sich eine visuelle Metapher, die sowohl die Schönheit der Landschaften als auch ihren Verfall vermitteln sollte. Als kreative Lösung, um spezifische Umweltprobleme der fotografierten Räume zu dokumentieren und das Publikum dazu anzuregen, über die Fragilität der Natur und auch der menschlichen Existenz nachzudenken, zeigt sie beispielsweise ein zerknittertes Blatt Papier inmitten des Landschaftsbildes, das niemals seine ursprüngliche Form zurückgewinnen kann. In ähnlicher Weise ist die Natur, die respektlos verunstaltet wird, unwiderruflich beschädigt.

 

Marina Gadonneix (FR): «Phénomènes» (3)

Das Projekt «Phénomènes», das 2014 während eines Aufenthalts im Centre National d’Études Spatiales (CNES) in Frankreich begann, dokumentiert wissenschaftliche Forschungsprogramme, die darauf abzielen, meteorologische und astrophysikalische Phänomene zu rekonstruieren und zu analysieren. In eigens dafür eingerichteten Räumen existieren Lawinen neben Hurrikanen, Erdbeben, Vulkanausbrüchen, Polarlichtern, Sternschnuppen, kollidierenden Schwarzen Löchern, Meteoriteneinschlägen, Marslandschaften und dem tiefen Weltraum des Universums. Diese naturgegebenen Singularitäten werden von Forscher/innen sorgfältig reproduziert und von Marina Gadonneix fotografiert, wobei ein ständiges Spiel der Perspektiven zwischen der beobachteten Realität und ihrer Simulation entsteht. Mit ihren Aufnahmen erforscht die Künstlerin die Theatralik der Labors und die rätselhaften Konstruktionen, die daraus entstehen. Sie offenbart den menschlichen Wunsch, abstrakte Dinge intellektuell zu erfassen und immaterielle Phänomene in Objekte der Untersuchung zu verwandeln.

 

Jan Robert Leegte (NL): «Drop Shadow» (2)

Die Materialität der digitalen Welt ist ambivalent: Unfassbar, fliessen Bits und Bytes durch Systeme und bilden andere ebenso unfassbare Materialien wie den «Drop Shadow» (Schlagschatten). Als visueller Effekt für die Informatik seit den 1980er Jahren, repräsentiert der Schlagschatten das Fehlen von Licht, das aufgrund eines blockierenden Objekts auf eine Oberfläche fällt. Doch im Universum der Pixel existiert kein reales Objekt. Die von Jan Robert Leegte für seine Serie Drop Shadow verwendeten Bilder sind normalerweise anonyme Computer-Hintergrundbilder. Hier handelt es sich um ein Foto des Lac des Taillères, das von einem Drittfotografen aufgenommen wurde. In diesem Projekt spielt Leegte mit dem Konzept der Landschaft, dessen aktuelle standardisierte Darstellungen das Erbe der traditionellen Malerei und der lizenzfreien Bilderdokumentation sind.

 

Vanja Bućan (SI): «Looking for Sadiq» (9)

Für die Serie «Looking for Sadiq» lässt sich Vanja Bućan vom Wüstengebiet Marokkos inspirieren und fotografiert es unter der Führung eines lokalen Guides namens Sadiq («Freund» auf Arabisch). In dem, was sie selbst als «unorthodoxes Reisetagebuch» bezeichnet, greift sie mittels Collage-Techniken spielerisch in ihre Bilder ein. Dadurch schafft sie eine dekonstruierte Erinnerung an das, was sie unterwegs gesehen hat, und stellt nicht nur die Wahrnehmung des Publikums auf die Probe, sondern auch das fotografische Medium selbst, das seit seiner Entstehung den Ruf hat, die Realität aufzuzeichnen. Die Hinzufügung von Artefakten und Figuren verweist auf die Sorge um das Ökosystem des Landes, als Folge einer inexistenten Umweltpolitik, schlechter Infrastruktur und eines unregulierten Seetransports, was zu einer Ansammlung von Plastik an den Küsten führt.

 

Liv Burkhard (CH): «Rise To The Sun» (15)

Mit ihrer Fotoserie «Rise To The Sun» behandelt Liv Burkhard die universelle Frage, weshalb wir aufbrechen und was wir uns zu finden erhoffen. In der Landschaft ihrer Heimat hofft die Künstlerin, die Begeisterung wiederzuentdecken, die sie einst verspürte, als sie als Kind entlang der Bäche spazierte oder durch die Obstgärten lief. Stattdessen wurde sie schnell von Gefühlen der Nostalgie und der Distanz konfrontiert und erkannte, dass ihre unschuldigen Kindheitserinnerungen von den Jahren der Angst in ihrer Adoleszenz getrübt waren. Obwohl wir immer noch Fragmente der Landschaften in uns tragen, die uns geholfen haben, unsere Wahrnehmung der Welt zu formen, können wir niemals die Erfahrung machen, sie zum ersten Mal zu entdecken; wir können sie niemals wieder mit den Augen des Kindes sehen, das wir einst waren.

 

Seunggu Kim (KR): «Jingyeong sansu» (11)

Die südkoreanische Kultur ist seit langem von einer tiefen Ehrfurcht vor der Natur und den Prinzipien des FengShui beeinflusst. Berge, die heilige Energie besitzen sollen, werden als «berühmte Berge» bezeichnet, und der Glaube an ihre positive Wirkung besteht im kollektiven Unbewussten fort. In den letzten Jahren hat sich in Südkorea ein Trend bei der Gestaltung von Hausgärten namens «Jingyeong sansu» entwickelt. Dabei werden berühmte Berge, wie der Geumgang-Berg, mit Hilfe von Natursteinen und Pflanzen in der Nähe von Luxusapartments nachgebildet, die von fremden nicht fotografiert werden dürfen. Seunggu Kim will in seinem Projekt die menschliche Neigung zu einer intensiven «Besitzmentalität» gegenüber der Landschaft zu hinterfragen.

 

Natela Grigalashvili (GE): «The Final Days of Georgian Nomads» (12)

Natela Grigalashvili realisierte ihr fotografisches Projekt in Adscharien, eine der abgelegensten und ärmsten Regionen Georgiens. Über Jahre waren die isolierten Bewohner/innen von einer umfassenden Bildung oder angemessener medizinischer Versorgung ebenso ausgeschlossen, wie von der Stromversorgung in den harten Wintermonaten. Viele einheimische Familien leben nomadisch oder als Migranten und wurden gezwungen, in andere Regionen Georgiens oder ins Ausland, hauptsächlich in die Türkei, zu ziehen. Die feindselige Umwelt lässt die Adscharien langsam ausbluten, und ihre einzigartigen Traditionen verschwinden. Natela Grigalashvili hat sich zum Ziel gesetzt, die Lebensweise der Bewohner/innen von Dörfern und Provinzstädten in Georgien zu dokumentieren.

 

Alpines Museum der Schweiz (CH): «Frauen am Berg – Fundbüro für Erinnerungen» (10,13,18)

Frauen haben seit jeher mit ebenso viel Begeisterung, Geschicklichkeit und Wagemut die Berge bestiegen wie Männer. Doch ihre schriftlichen oder illustrierten Zeugnisse wurden lange Zeit nicht ausreichend gewürdigt. Mit dem Ziel, diesen Zustand zu ändern, hat das Alpine Museums ein interaktives Projekt gestartet, das die rund vierzig Bilder von «Frauen in den Bergen» aus seiner Sammlung überprüft und eine Plattform bietet, auf der Frauen, die Bergsteigen und Klettern betreiben, ihre Erinnerungen teilen können. Reiseberichte oder Selfies, die auf Gipfeln aufgenommen wurden –  das Museum interessiert sich dafür, was Frauen in den Bergen erleben, denken und erreichen.

 

Chloe Dewe Mathews (GB): «In Search of Frankenstein» (MBAL)

Die fotografische Serie «In Search of Frankenstein» von Chloe Dewe Mathews entstand in der alpinen Landschaft, die Mary Shelley zu ihrem gotischen Roman inspirierte. Sie stellt verschneite Berge einem Netzwerk düsterer unterirdischer Bunker gegenüber, die in den 1960er Jahren erbaut wurden, um im Falle einer nuklearen Katastrophe die gesamte Schweizer Bevölkerung aufzunehmen. Das Projekt wurde während eines Aufenthalts bei der Verbier 3-D Foundation im Jahr 2016 konzipiert, als die Künstlerin entdeckte, dass das Manuskript von Shelley während eines Urlaubs im Jahr 1816 am Ufer des Genfersees begonnen wurde. Das regnerische und beunruhigende Wetter dieses «Sommerlosen Jahres» zwang Shelley und ihre Freunde, Tag für Tag drinnen zu bleiben und von Geistergeschichten zu träumen, aus denen das mythische Monster Frankenstein entstand. Dewe Mathews fotografierte kilometerlange unterirdische Korridore und schmelzende Gletscher und verwebte ihre Fotografien mit Reproduktionen des Originalmanuskripts.
Im Musée des Beaux-arts, Rue Marie-Anne-Cme 6, CH-2400 Le Locle

 

Weiter sind zu sehen:

Arvida Byström (SE): «Digilore» (5)
Lara Chahine (LIB): «Reality is a Movement» (4)
Stijn Cole (B): «Timescape 21/6/2023 – Longest day» (14)
Bieke & Dries Depoorter (B): «Border Birds» (8)
Gaja Squarci (IT): «Ashes and Autumn Flowers» (7)

Laura Henno (FR): Künstlerresidenz, Parc naturel régional du Doubs horloger français
18 Rue du Couvent, F-25210 Les Fontenelles, Frankreich

Das Wichtigste in Kürze

Was? Fotofestival Alt+1000
Wann? Noch bis 18. September 2023
Wo? Le Locle (MBAL) und Lac des Taillères bei La Brévine
Wie viel? Besuch der Ausstellungen kostenlos
Infos? https://www.plus1000.ch/fr

Stimmungsbilder: Alt+1000, 2023 © Patrick Guerne – Studio444

 

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