Die Fondation Beyeler ist bekannt für die Präsentation von Gemälden der klassischen Moderne und der Gegenwartskunst, weniger für fotografische Werke. So ist die eben eröffnete Einzelausstellung von Jeff Wall erst die zweite dieser Art, nachdem die Fondation Beyeler 2017 Wolfgang Tillmans präsentiert hatte.
Der kanadische Künstler Jeff Wall (*1946) hat mit seinem Werken massgeblich zur Etablierung der Fotografie als eigenständige Kunstform beigetragen. Seine Bilder sind das Ergebnis perfekt inszenierter Situationen mit eigens ausgewählten Objekten und Darsteller/innen, um Ideen oder die Darstellung von Gemälden, Skulpturen oder Romanen zu visualisieren. Wall bezeichnet seine Arbeiten als «Cinematografien», da er im Film ein Vorbild für kreative Freiheit und Erfindungskraft sieht, die minutiös vorbereitet und perfekt inszeniert ist.
In der Ausstellung der Fondation Beyeler werden mehr als 50 Werke aus fünf Jahrzehnten in 11 Räumen als gigantische, von Leuchtkästen durchleuchtete Grossbildiapositive gezeigt, eine Präsentationsform, die ab den 1970er-Jahren in der Werbung genutzt wurde. Jeff Wall hat diese eindrückliche Art der Bildpräsentation als einer der ersten Kreativkünstler übernommen, die seither zu seinem Markenzeichen geworden ist. Weitere seiner Werke werden als grossformatigen Schwarzweiss-Fotografien oder Inkjet-Farbdrucke präsentiert. Die Ausstellung richtet ein besonderes Augenmerk auf Arbeiten aus den letzten zwei Jahrzehnten, darunter auch Fotografien, die erstmals überhaupt öffentlich zu sehen sind.
Die meisten von Jeff Walls Fotografien sind konstruierte Bilder, die eine umfangreiche Planung und Vorbereitung, die Zusammenarbeit mit Darsteller/innen und eine Postproduktion erfordern. Jeff Wall komponiert Bilder, die von der Vorstellung abweichen, dass Fotografie in erster Linie eine getreue Abbildung der Realität ist. Seine Werke bewegen sich zwischen dokumentarischer Aufzeichnung, filmischer Komposition und freier poetischer Erfindung. Sie konfrontieren die Ausstellungsbesuchenden mit einer Vielzahl von Motiven und Themen, mit Schönem und Hässlichem, Mehrsinnigem und Verstörendem.
A Sudden Gust of Wind (after Hokusai) aus dem Jahr 1993, das zu Walls grossformatigsten Werken zählt, erweist sich als zeitgenössische Adaption eines Drucks aus Katsushika Hokusais Holzschnittserie 36 Ansichten des Berges Fuji (um 1830–1832). Das Bild hat seinen Ursprung im Werk eines anderen Künstlers; Wall nimmt sich die Freiheit, seine Themen dort zu finden, wo ihn seine Fantasie hinführt, was von Alltagsszenen über Kunstgeschichte, Literatur und Theater bis hin zum Film reicht. A Sudden Gust of Wind (after Hokusai) ist eine der ersten Arbeiten des Künstlers, in denen er digitale Techniken einsetzte, die es ermöglichen, eine Reihe einzelner Negative zu einem einzigen finalen Bild zusammenzufügen.
Bei vielen Bildern von Jeff Wall stehen Landschaften im Vordergrund, einige davon eröffnen einen weiten Blick auf urbane und vorstädtische Gegenden in Vancouver. Jeff Wall erachtet die Stadtlandschaften als einen wichtigen Aspekt seiner Arbeit. Sie ermöglichen ihm die Erkundung des Wesens der Stadt, ihres Verhältnisses zu den sie umgebenden nichtstädtischen oder vorstädtischen Gebieten und ihres Charakters als Schauplatz des unendlichen Geflechts von Ereignissen, die das gesellschaftliche Leben ausmachen.
Wall ist der Ansicht, dass die Fotografie in ihrer Themenwahl und Umsetzung so frei sein sollte wie alle anderen Kunstformen – so poetisch wie die Poesie, so literarisch wie die Literatur, so malerisch wie die Malerei, so theatralisch wie das Theater, dies ohne die spezifischen Eigenheiten des fotografischen Mediums preiszugeben.
Viele der von Jeff Wall fotografierten Szenen umfassen Darstellungen von Männer- und Frauengruppen, von armen und wohlhabenden, von jungen und alten Menschen. Darunter sind Bilder, die mit grossem Aufwand geschaffen wurden, und andere, die keine sichtbare Herausforderung in der Umsetzung zu erkennen geben. Es finden sich Fotografien in Farbe und in Schwarzweiss, grosse und kleine, real und unwirklich anmutende, die den unterschiedlichsten Stimmungen, Gemütszuständen und Beziehungen Anschaulichkeit verleihen.
Viele der bekanntesten Arbeiten des Künstlers sind zu sehen, darunter auch After ‹Invisible Man› by Ralph Ellison, the Prologue (1999–2000), die Rekonstruktion einer Szene aus Ellisons Roman von 1952, die den jungen Schwarzen Helden des Buches bei der Arbeit an der Erzählung der Geschichte in seinem geheimen Kellerversteck zeigt, das mit genau 1369 Glühbirnen beleuchtet ist.
Die meisten von Walls neueren Werken in der Ausstellung, sind so arrangiert, dass sie in einen Kontrast zu älteren Bildern treten. «Fallen rider» (2022), das Bild einer Frau, die gerade von ihrem Pferd abgeworfen wurde, hängt gegenüber von «War game» (2007), auf dem drei Jungen, die offenbar während eines Kampfspiels gefangen genommen wurden, in einem improvisierten Gefängnis flach auf dem Boden liegen, während ein anderes Kind sie bewacht.
Beeindrucken die Werke einmal durch ihre spirituelle und emotionale Aussage, dann aber auch durch die Grösse und Leuchtkraft ihrer Präsentation. Dabei fallen unzählige Details ins Auge, Szenen von Menschengruppen, in «The Storyteller» oder «Fieldwork» beispielsweise, bei denen jede Einzelheit perfekt arrangiert ist, wie in einer Filmszene. Diese inszenierte Fotografie fasziniert und ist eine weitere Dimension der Bilder – und das Markenzeichen von Jeff Wall.
Die Jeff Wall Ausstellung in der Fondation Beyeler in Riehen (bei Basel) ist noch zu sehen bis 21. April 2024
Situationsbilder: Urs Tillmanns / Fotointern.ch
Der Katalog zur Ausstellung
Der Ausstellungskatalog leitet nicht nur durch die Ausstellung, sondern er ist eine bleibende Erinnerung und ein repräsentatives Buchwerk zu Jeff Walls Schaffen. Er wurde von Uwe Koch in engem Austausch mit dem Künstler gestaltet und erschien auf Deutsch und Englisch im Hatje Cantz Verlag, Berlin. Auf den 240 Seiten finden sich neben Abbildungen der Werke ein Gespräch zwischen Jeff Wall und Martin Schwander, ein ausführlicher Text, in dem der Künstler selbst die Auswahl und Hängung der Werke in den elf Sälen erörtert, sowie Beiträge von Martin Schwander und Ralph Ubl.
Der Katalog ist im Shop der Fondation Beyeler erhältlich oder kann hier online bestellt werden. Der Preis beträgt CHF 62.50.
Jeff Wall
Wall wurde 1946 in Vancouver, Kanada, geboren, wo er auch heute noch lebt und arbeitet. In den 1960erJahren – in der Blütezeit der Konzeptkunst – begann er sich mit Fotografie zu beschäftigen. Ab Mitte der 1970er-Jahre zeigte er in Leuchtkästen inszenierte Grossbilddias. Mit diesem Format, das bis dahin eher mit Werbung als mit Fotokunst in Verbindung gebracht wurde, führte er eine neue Präsentationsform in die Kunst ein. Seit Mitte der 1990er-Jahre hat Wall sein künstlerisches Ausdrucksspektrum mehrfach erweitert, zunächst um grossformatige Schwarz-Weiss-Fotografien und in jüngerer Zeit auch um Farbdrucke. Sein Schaffen war in zahlreichen Einzelausstellungen weltweit zu sehen, unter anderem 2005 in der Tate Modern, London, 2007 im Museum of Modern Art, New York, 2014 im Stedelijk Museum, Amsterdam, und 2021 im Glenstone Museum, Potomac.
Fondation Beyeler
Die Fondation Beyeler in Riehen bei Basel ist international bekannt für ihre hochkarätigen Ausstellungen, ihre bedeutende Sammlung der klassischen Moderne und der Gegenwartskunst sowie ihr ambitioniertes Veranstaltungsprogramm. Das von Renzo Piano entworfene Museumsgebäude ist in einem Park mit altem Baumbestand und Seerosenteichen gelegen. Die Lage inmitten eines Naherholungsgebiets mit Aussicht auf Kornfelder, Kuhweiden und Rebberge an den Ausläufern des Schwarzwalds ist einzigartig. Im angrenzenden Park realisiert die Fondation Beyeler mit dem Schweizer Architekten Peter Zumthor einen Museumsneubau und verstärkt so die harmonische Verbindung von Kunst, Architektur und Natur. Die Fondation Beyeler ist täglich 10 bis 18 Uhr, mittwochs bis 20 Uhr geöffnet.
Weitere Informationen finden Sie unter www.fondationbeyeler.ch