Urs Tillmanns, 16. April 2024, 11:00 Uhr

Zu 100 Jahren Surrealismus: 5 Ausstellungen im Photo Elysée

Dieses Jahr feiert die Plateforme 10 in Lausanne, zu der auch das Museum Photo Elysée gehört, das 100-jährige Jubiläum des Surrealismus, dies mit einer Sonderschau zum Lebenswerk von Man Ray. Vier weitere, gleichzeitige Ausstellungen machen den Besuch im Photo Elysée besonders lohnend.

Die Kunstbewegung des Surrealismus begann vor hundert Jahren, als André Breton das Manifest dieser bedeutenden künstlerischen Revolution des 20. Jahrhunderts ausrief. Zum Kreis der Künstlerinnen und Künstler, die sich um Breton scharten, gehörten Luis Buñuel, Leonora Carrington, Salvador Dalí, Max Ernst, Alberto Giacometti, Dora Maar, Dorothea Tanning, sowie ein Fotograf: Man Ray.

 

Man Ray – fotografischer Wegbereiter des Surrealismus

Das fotografische Werk Man Ray erstreckt sich über eine ganze Reihe von Genres, von Porträts über Akt- und Modefotografie zur Objektkunst bis hin zur abstrakten Fotografie. Man Ray war nicht nur sehr vielfältig interessiert, sondern er erprobte mit seiner ausgeprägten Experimentierfreudigkeit verschiedenste neuartige Techniken wie Fotogramme – die man auch «Rayographien» nennt – , Solarisation, Retuschen oder Kombinationen eines Negativs mit einem Diapositiv. Man Ray wurde Teil der Pariser Künstlerszene zu Beginn des 20. Jahrhunderts, stand Marcel Duchamp und André Breton nahe, und ist einer der wenigen Fotografen, die zu den Künstlern des Dadaismus und Surrealismus gezählt werden. Man Ray, dessen künstlerische Schaffenszeit sich über einen Zeitraum von mehr als 60 Jahren erstreckt, gilt heute als einer der bedeutendsten Fotografen des 20. Jahrhunderts. Seine ersten Fotografien entstanden in den 1910er-Jahren in New York. Doch erst in den darauffolgenden zwei Jahrzehnten, während seiner Zeit in Paris, gibt er die Malerei auf und widmet sich ganz der Fotografie. Er sieht in diesem Medium ein schöpferisches Werkzeug, das es ihm ermöglichen würde, über die blosse Abbildung der Realität hinauszugehen.

 

Gegen 2000 Werke von Man Ray werden in dieser umfassenden Ausstellung gezeigt. Die meisten davon stammen aus einer Privatsammlung

Als Man Ray beschliesst, sich als professioneller Fotograf niederzulassen und sein Studio eröffnet, findet sich die gesamte Kunstszene bei ihm ein : Henri Matisse, Pablo Picasso, Robert Delaunay, Alberto Giacometti, Salvador Dalí, Max Ernst. Er fertigt zahlreiche Porträts von Künstler/innen, Schriftsteller/innen und Intellektuellen seines Umfeldes an, darunter Coco Chanel, Paul Eluard, James Joyce, Elsa Schiaparelli, Igor Strawinsky und Virginia Woolf. Dabei beschränkt er sich nicht darauf, nur Berühmtheiten vor der Kamera posieren zu lassen, sondern er experimentiert auch mit unterschiedlichen Inszenierungen seiner weiblichen Modelle Lee Miller, Kiki de Montparnasse oder Meret Oppenheim.

Zur Ausstellung soll Mitte Mai 2024 ein Katalog erscheinen.

 

Cindy Sherman: Variationen ihrer Selbstporträts

In einer weiteren Ausstellung finden wir Selbstporträts von Cindy Sherman, die sich seit mehr als vierzig Jahren mit den Themen der Darstellung und Identität befasst. In der Doppelrolle als Fotografin und Modell, die mit traditionellen Verwandlungsmethoden wie Makeup, Perücken oder Kostümen spielt, kreiert Sherman Porträts von Frauen mit ähnlichen und doch sehr unterschiedlichen Gesichtszügen, wobei sie immer ihren eigenen Körper dazu verwendet. Der Eindruck einer fragmentierten Identität, typisch für unsere heutige Gesellschaft, kommt besonders in ihren Figuren zum Ausdruck, die sie seit den 2000er-Jahren mithilfe digitaler Bildbearbeitung konstruiert.

 

Cindy Sherman ist Model und Fotografin dieser entstellten Gesichter, die allerdings nicht jedermanns Geschmack sind …

In ihrer jüngsten Werkreihe findet die Wandelbarkeit des Selbstbildes ihren Ausdruck in den collageartig zusammengesetzten Gesichtern, bei denen Sherman besondere Betonung auf die Details legt, die dabei aufeinanderstossen. Diese Frauen, in deren Gesichtern sich unterschiedlichste Emotionen spiegeln, sind allesamt aus den Gesichtszügen der Künstlerin selbst zusammengesetzt. Sherman befindet sich gleichzeitig vor und hinter der Kamera, ist Objekt und Bearbeiterin zugleich. Diese Bilderserie zeigt, in welchem Masse unsere Identität komplex ist, wie sie von den verschiedensten Konstruktionen abhängig und unmöglich in nur einem einzigen Bild einzufangen ist. 

 

Der Fotoautomat – lässt der Bilderfantasie freien Lauf

Die dritte Ausstellung widmet sich einer ganz anderen Art der Porträtfotografie. Ende der 1920er-Jahren kommen in Bahnhöfen und anderen stark frequentierten Orten Fotokabinen in Mode, in denen man sich für ein paar Groschen beliebig selbstporträtieren kann – zum Leidwesen der Berufsfotografen, denen so eine Konkurrenz zum Passbildgeschäft erwächst, und dies erst noch mit sofortiger Verfügbarkeit. Dieser Fotoautomat, das «Photomaton», fasziniert die Menschen seit jeher. Schon 1929 betreten André Breton und seine surrealistischen Freunde diesen Bilderkasten und machen sich einen Spass daraus, mehr oder weniger verrückte Posen einzunehmen. Diese neue Technologie wurde ein visuelles Äquivalent zur «écriture automatique» und zum «dessin automatique», dem «automatischen Schreiben und Zeichnen».

 

Fotoautomaten faszinieren seit jeher. In der Ausstellung können sich die Besucherinnen und Besucher als «Kunstobjekt» verewigen

Diese kleinen, automatisch erstellten Porträts waren es auch, die das Interesse von Christian Marclay weckten. Selbst im Zeitalter von Smartphones, Selfies und künstlicher Intelligenz üben diese Vierer-Sets aus dem vordigitalen Zeitalter noch immer eine grosse Anziehungskraft aus. Christian Marclay hat daher die Fotografie-studierenden der Kantonalen Hochschule für Kunst und Design ECAL eingeladen, mit ihm die künstlerischen Möglichkeiten des Fotoautomaten im Photo Elysée zu erkunden. Dabei spielen die Besucherinnen und Besucher eine wichtige Rolle, die sich in einem digitalen Photomaton selbst verewigen können.

 

Ansichten und Daten: das Ergebnis eines Forschungsprojekts

Die Ausstellung «Ansichten und Daten» ist das Ergebnis eines Forschungsprojekts rund um das Konzept «Daten», durchgeführt von der Fotokünstlerin Aurélie Pétrel und dem Philosophen Fabien Vallos, in Zusammenarbeit mit der Hochschule für Kunst und Design (HEAD) Genf und der Nationalen Hochschule für Fotografie Arles (ENSP). Diese Forschungsarbeit analysiert die Bedeutung des Konzepts der «Daten» im Bereich der Kunst, der zeitgenössischen Fotografie und der Theorie. Die Ausstellung ist als letzte Phase des Projekts angelegt und vereint alles, was im Rahmen der Recherche erstellt, zusammengetragen und erdacht wurde. Sie versteht sich als Form und als Bild: Als Form ist sie eine Art «Container», in dem Aurélie Pétrel und Fabien Vallos verschiedene Arbeiten, Objekte und Kommentare platziert haben. Als Bild repräsentiert sie die Plastizität der Daten und zeigt die unendlich vielen möglichen Verbindungen zwischen allen vorhandenen Elementen auf.

 

Die Installation visualisiert das Konzept der «Daten» im Bereich der Kunst, der zeitgenössischen Fotografie und der Theorie

Die von Dieudonné Cartier konzipierte und umgesetzte Struktur der Ausstellung umfasst somit Werke von Aurélie Pétrel, rund 50 von Aurélie Pétrel und Fabien Vallos gesammelte Objekte und über 100 Kommentare, die in Zusammenarbeit mit den Studierenden des Masterstudiengangs (Laboratoire Fig.) der ENSP Arles und des Masterstudiengangs der Visuellen Künste, CCC, der HEAD Genf entstanden sind. Die gesamte Arbeit ist in einem Katalog zusammengefasst, der zu diesem Anlass veröffentlicht wird.

 

Inclusions: In Objekte eingegossene Bilder

«Inclusions» ist eine Sammlung von Möbeln und Klassikern des Designs, die Thomas Mailaender mit Hilfe von Bildern neu interpretiert und so ausrangierte Gegenstände zu neuem Leben erweckt. Er benutzt Fotografien, Dokumente und Müll, die er auf dem Boden liegend oder auf Flohmärkten gefunden hat, welche er in Harzplatten eingiesst, die danach in Möbelstücke eingesetzt werden. Der französische Künstler ersetzt so die Platte des berühmten Le Corbusier-Tisches Corbusier LC6 oder er versieht die Sitzflächen des ikonischen Hockers von lkea und integriert dieses synthetische Material in das Holz eines Tisches von Poul Kjoerholm. Die in Harz eingegossenen Geschichten wecken in uns Erinnerungen, beflügeln unsere Fantasie und sollen Dialoge fördern und Reflexionen auslösen.

 

Thomas Mailaender giesst fotografische und gefundene Objekte in Harz ein und schafft so Alltagsgegenstände, die zur Benutzung bestimmt sind

Als Antwort auf einen Auftrag des Museums wurde diese ikonoklastische Installation, die speziell für diesen Zweck geschaffen wurde, dem neuen Vermittlungsbereich zugeordnet. Die Objekte sollen benutzt werden, um über Fotografie zu sinnieren und den Stellenwert von Bildern in unserem Leben zu diskutieren. Mailaender spielt mit den Bildern, die er findet und sammelt, ohne selbst neue Bilder herzustellen. Er gibt ihnen (wieder) eine Form durch diese Alltagsgegenständen und lädt uns dazu ein, damit Verbindungen zu knüpfen.

 

Die fünf Ausstellungen, die zum Leitbegriff von Plateform 10 des Surrealismus gehören, sind noch bis 2. Juni 2024 zu sehen im
Photo Elysée 
Place de la Gare 17
CH-1003 Lausanne
Tel. 021 318 44 00

 

 

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