Urs Tillmanns, 3. Juni 2024, 10:10 Uhr

Fotostiftung Schweiz: Von Objekten und Menschen

In der Fotostiftung Schweiz in Winterthur werden zur Zeit zwei Ausstellungen präsentiert, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Die Einzelausstellung «Melencolia» von Bernard Voïta zeigt arrangierte Objekte, während die Gruppenausstellung «Paare» in rund 100 Fotografien das Zusammenleben visualisiert.

 

Bernard Voïta «Melencolia» – verwirrenden Wirklichkeit

Bernard Voïta (1960 geboren in Cully VD, heute ein Brüssel lebend) gehört zu den herausragenden Fotokünstlern unserer Zeit. Seine Werke erinnern zunächst an Montagen oder Collagen, bei genauerem Hinsehen entpuppen sie sich jedoch als reale Installationen im Raum, die er danach fotografiert hat. Die Serie «Melencolia», die in der Fotostiftung Schweiz erstmals umfassend präsentiert wird, ist eine Quintessenz aus seiner langjährigen Gratwanderung zwischen Sein und Schein – ein hochaktuelles künstlerisches Statement zur Gegenwart.

Die Werke von Bernard Voïtas Serie «Melencolia», die von 2014 bis 2017 entstanden sind, verwirren die Betrachtenden zunächst mit unwirklich scheinenden Perspektiven, skurrilen Überschneidungen und dominierenden grafischen Linien. Man glaubt, es handle sich um Montagen, doch die Szenerien sind echt und wurden in stundenlanger Arbeit im Studio passend arrangiert. Sie bringen banale Dinge des Alltags in eine so akkurat geordnete Unordnung, dass die Betrachtenden Halt und Orientierung verlieren und sich aus einer scheinbar sinnerfüllten Wirklichkeit in ein Labyrinth voller Absurditäten verirren. Jedes einzelne Bild erweist sich als eine sinnliche, kluge, humorvolle und zuweilen verstörende Illusion, die gerade deshalb so fasziniert, weil ihr Bauplan rätselhaft bleibt.

Der Titel der Bildserie ist eine Anspielung auf Albrecht Dürers berühmten Kupferstich «Melencolia I» (1514), in dem die Welt eigenartig erstarrt und perspektivisch «verrückt» erscheint. In der aktuellen Ausstellung werden zum ersten Mal alle 15 Werke integral gezeigt – eine modellhafte Reflexion über die Konstruktion und Dekonstruktion von Wirklichkeit. Nichts ist so, wie wir es sehen. Für die Ausstellung wurden die Zwischenwände des grossen Ausstellungsraums entfernt, um die grossformatigen Bilder adäquat präsentieren zu können. Zudem entstand dabei Freiraum für eine Installation des Künstlers mit symbolisierten Transportbehältern, mit welchen er zum Ausdruck bringt, dass seine Fotografien nicht ortsgebunden sind, sondern weiterziehen.

 

«Paare / Couples» – Das Zusammenleben in Bildern

Vor rund einem Jahrzehnt hatte der Filmemacher Iwan Schumacher damit begonnen, Fotografien von Paaren zu sammeln, die nicht in die Kamera schauen. Parallel dazu plante Peter Pfrunder, Direktor der Fotostiftung Schweiz, seit langem eine Ausstellung zu diesem Thema mit Bildern aus der Sammlung der Fotostiftung. Und so ist eine Schau mit rund hundert und ein Buch Bildern dazu mit mehr als doppelt so vielen Abbildungen entstanden, das Paare und Beziehungen im weitesten Sinn zum Inhalt hat.

Die Ausstellung erhebt nicht den Anspruch, eine historisch oder gesellschaftlich repräsentative Auswahl von Werken zu vereinen. Es geht weder um eine fotohistorische noch um eine sozialpsychologische Analyse von Paarbeziehungen in der Fotografie. Vielmehr handelt es sich um eine spielerische, assoziative Präsentation, arrangiert von zwei Liebhabern des fotografischen Bildes: Aufnahmen, von denen jede aus einem anderen Film zu stammen scheint, die sich aber insgesamt wieder zu etwas Neuem montieren lassen.

Fotografien von nicht posierenden Paaren sind kleine Offenbarungen, die weit über dokumentarische Momentaufnahmen hinausgehen. Selten tragen Menschen ihre Gefühle und ihre Befindlichkeit so offen zur Schau wie in diesen Szenen der Zweisamkeit, selbst wenn sie zur Einsamkeit wird. Blicke, Mimik, Arme, Hände, Gesten und Körperhaltungen lassen erahnen, dass im Verborgenen Dinge geschehen, zu denen andere keinen Zutritt haben. Die Motivation der Fotografinnen und Fotografen, solche Bilder zu machen, entspringt vermutlich demselben Impuls, derselben Faszination, mit der wir als Betrachterinnen und Betrachter diesen Aufnahmen begegnen: mit einer Mischung aus Schaulust und empathischer Neugier.

 

 

Publikationen zu den Ausstellungen

Iwan Schumacher / Peter Pfrunder «Paare / Couples», Edition Patrick Frei / Fotostiftung Schweiz, 2024, 234 Seiten, 219 Abbildungen, Format 19,5 x 24 cm, Hardcover und Schutzumschlag,
ISBN 978-3-907236-69-7, CHF/EUR 52.00 (Shop CHF 45.00)
Bernard Voïta «Melencolia», Herausgegeben von Peter Pfrunder, Edizioni Periferia / Fotostiftung Schweiz, 2024, 178 Seiten, 80 Abbildungen, Format 22 x 30 cm, broschiert
ISBN 978-3-907205-44-0, CHF/EUR 32.00

Beide Publikationen sind im Buchhandel, bei den Verlagen oder im Shop der Fotostiftung Schweiz erhältlich. 

 

Die beiden Ausstellungen sind bis 6. Oktober 2024 zu sehen in der

Fotostiftung Schweiz
Grüzenstrasse 45
CH–8400 Winterthur
Tel 052 234 10 30

Weitere Informationen dazu mit den geplanten Rahmenveranstaltungen finden Sie unter www.fotostiftung.ch

 

Die beiden letzten Ausstellungen von Peter Pfrunder

Mit den Ausstellungen Bernard Voïta – Melencolia und Paare / Couples , verabschiedet sich Peter Pfrunder nach 26-jähriger Amtszeit offiziell als Direktor und Kurator der Fotostiftung Schweiz.
Peter Pfrunder, wurde 1959 in Singapur geboren und wuchs in der Schweiz auf. Er studiert Germanistik, Europäische Volksliteratur und englische Literatur in Zürich, Montpellier und Berlin. Von 1995 bis 1998 war er Co-Leiter des Forums der Schweizer Geschichte / Schweizerisches Landesmuseum in Schwyz, bevor er 1998 zum Direktor und Kurator zur Fotostiftung Schweiz in Winterthur berufen wurde. Er hat während dieser Zeit rund 60 Ausstellungen kuratiert und ca 40 Bücher oder Kataloge dazu publiziert.
Fotointern dankt Peter Pfrunder im Namen seiner Leserschaft für die immer interessante Zusammenarbeit, die vielen spannenden persönlichen Kontakte und wünscht ihm zu seiner Pensionierung alles Gute. Urs Tillmanns

 

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