Wie sah Paris vor hundert Jahren aus? Wie gestaltete sich das Strassenleben, wie die Nobel- und wie die Armenviertel? Eugèene Atget (1857-1927) war der einzige Fotograf, der damals alle Viertel mit ihren Charakteristiken und ihrer Vielfalt dokumentiert hatte.
Die kürzliche Besprechung des Buches über Robert Doisneau auf Fotointern war bei unserer Leserschaft auf viel Beachtung gestossen. Offensichtlich besteht ein grosses Interesse nach Ansichten aus dem alten Paris, so dass sich eine Rezension des Buches über Eugène Atget aus dem Taschen-Verlag, das vom gleichen Fotohistoriker verfasst wurde, aufdrängt.
Eugène Atget wurde am 12. Februar 1857 in Libourne geboren und heuerte nach seiner Schulzeit auf einem Passagierschiff der Südamerika-Linie als Steward an, was ihm jedoch wenig zusagte. Zurück in Paris schrieb er sich am Konservatorium zur Ausbildung als Schauspieler ein, doch soll er aufgrund seines wenig vorteilhaften Aussehens dabei nicht sehr erfolgreich gewesen sein. Seine Liebhaberei, die Fotografie, faszinierte ihn immer mehr, so dass er sich darauf spezialisierte, mit seiner 18 x 24 cm Grossformatkamera Paris zu dokumentieren: die Parks, Strassenzüge, Gebäude, Gassen, Schaufenster, aber auch das Marktleben, die Leute und die Prostituierten. Das alte Paris fesselte ihn, nicht aber die damals neuzeitlichen Errungenschaften, wie beispielsweise die Metro, Automobile oder der Eiffelturm; sie fehlen gänzlich auf seinen Bildern. Auch seine Kamera war damals schon antiquiert, doch er liebte diese Nostalgie, sowohl seiner Ausrüstung als auch seiner Motive.
Eugène Atget erlangte erst nach seinem Tod Berühmtheit und die Würdigung seiner Arbeit. Nach seiner missglückten Schauspielerkarriere lebte er eher zurückgezogen und in ärmlichen Verhältnissen zusammen mit der Schauspielerin Valentine Delafosse Compagnon. Für seine dokumentarischen Bilder von Paris gab es nur einen kleinen Markt. Es waren hauptsächlich Maler und Bühnenbilder, die einen Nutzen aus seinen Städtebildern als Vorlagen für ihre Kreationen zogen. Erst in seinen letzten Jahren gelang es ihm, Bibliotheken und Museen für seine fotografischen Werke zu gewinnen.
Die Einleitung zum Buch des Fotohistorikers Jean Claude Gautrand, die vollumfänglich auf Französisch, Englisch oder auf Deutsch zu lesen ist, ist eine hervorragende Biografie über Eugène Atget, die sein Leben, seinen Charakter und seine Arbeitsweise eindrücklich wiedergibt. Der Text geht auch auf wichtige Einzelheiten ein, wie zum Beispiel die Begegnungen mit Brassaï, Man Ray oder Berenice Abbott. Wir verdanken es der Letzterwähnten, die als junge Amerikanerin in Paris bei Man Ray als Assistentin wirkte, dass Eugene Atgets Nachlass nach seinem Ableben zu einem grossen Teil nach New York ins Museum of Modern Art kam und so der Nachwelt erhalten blieb.
Die rund 500 Fotos von Atget im Buch zeigen das Paris der Zeit um 1890 bis 1927 (dem Todesjahr von Atget) aus der Perspektive eines Fotografen, der sich zum Ziel gesetzt hatte, alle Arrondissements der Seinestadt systematisch und in aller Vielfalt zu dokumentieren. Die Strassen, Gassen, Gebäude, das Marktleben und die Glochards, die Schaufenster, die Strassenverkäufer bis hin zu den Liebesdienerinnen, versetzen uns in ein Paris, wie es längst nicht mehr ist – ein Paris, wie es Atget erlebt und in bleibende Bilddokumente umgesetzt hat. Paris-Kennerinnen und -Kenner sind geneigt, die Fotografien von damals mit Ansichten von heute zu vergleichen, was allerdings nur in wenigen Fällen gelingt; die Stadt hat sich im Laufe der Jahrzehnte zu sehr verändert. Aber dennoch profitieren sie von den Kapiteltexten, denn hier wird jedes Arrondissement mit seiner Geschichte, seiner Bedeutung und dem Wirken von Atget aus der Sicht des Fotohistorikers Jean Claude Gautrand minutiös beschrieben.
Und so komme ich nochmals zurück, auf den vor kurzem besprochenen Paris-Bildband von Robert Doisneau, der ein ganz anderes Paris zum Inhalt hat. Es sind Fotos, welche die Seinestadt der 1930er- bis 1980er-Jahre zeigen, sich jedoch inhaltlich und stilmässig durchaus mit dem Schaffen von Eugene Atget vergleichen lassen. Zwei Bücher also, die sich für Paris-Liebhaber auf ideale Weise ergänzen.
Für wen ist dieses Buch? In erster Linie für Paris-Fans, welche sich für die Geschichte der Stadt und ihre frühen Ansichten interessieren. Sie kommen neben den Bildern vor allem in den Texten auf Ihre Rechnung, weil diese viel Unbekanntes über alle Pariser Arrondissements verraten. Dann dürften sich fotohistorisch Interessierte für dieses Buch begeistern, weil es das Leben und Wirken von Eugène Atget hervorragend beschreibt und rund 500 seiner fotografischen Werke in den Vordergrund rückt, darunter sehr viele bisher kaum gesehene Fotografien. Das Buch würdigt das Werk eines der grössten Fotografen des 19. und 20. Jahrhunderts.
Urs Tillmanns
Beschreibung des Verlages
Als Eugène Atget (1857–1927) an der Schwelle zum 20. Jahrhunderts mit einer damals schon veralteten, sperrigen und schweren Plattenkamera durch die Strassen und Vororte von Paris zog, um kleine Gewerbetreibende, Prostituierte, Gassen, Hinterhöfe, Fassaden, architektonische Details, Parks und Strassenfluchten zu fotografieren, tat er das im Bewusstsein, Augenzeuge einer verschwindenden Welt zu sein. Zwar dienten seine Bilder als Souvenirs oder Bildvorlagen für Maler wie George Braque, André Derain oder Maurice Utrillo durchaus prosaischen Zwecken, doch Atget selbst verstand sich als Stadtarchäologe, der flanierend und fotografierend eine umfassende Fotodokumentation seiner Wahlheimat Paris zusammenträgt.
Atget blieb zu Lebzeiten weitgehend unbekannt, unterschied sich seine Fotografie durch ihre Präzision und dokumentarische Schärfe doch zu sehr vom bevorzugten malerischen Weichzeichnerstil seiner Epoche. Doch in den 1920er-Jahren wurde die Avantgarde des Dadaismus und des Surrealismus durch Man Ray auf ihn aufmerksam. Vier seiner Bilder erschienen im Surrealistenblatt «La Révolution surréaliste;. Man Ray selbst und viele seiner Freunde erwarben Aufnahmen Atgets. Grössere Bekanntheit erlangte der Fotograf jedoch erst posthum dank mehrerer Artikel und einer Monografie von Berenice Abbott, die Atget kurz vor seinem Tod über Man Ray kennengelernt hatte. Auf ihn als Vorbild beriefen sich später einige der berühmtesten Fotografen, darunter Walker Evans und Bill Brandt.
Dieser Band zeigt rund 500 Fotografien von Atget, der, zu Lebzeiten verkannt, heute zu den Grössen der frühen Fotokunst zählt und dessen Platten u. a. in der Bibliothèque Nationale in Paris oder dem Museum of Modern Art in New York verwahrt werden.
Der Inhalt
Einleitung
1er Arrondissement
2e Arrondissement
3e Arrondissement
4e Arrondissement
5e Arrondissement
6e Arrondissement
7e Arrondissement
8e Arrondissement
9e Arrondissement
10e Arrondissement
11e Arrondissement
12e Arrondissement
13e Arrondissement
14e Arrondissement
15e Arrondissement
16e Arrondissement
17e Arrondissement
18e Arrondissement
19e Arrondissement
20e Arrondissement
Anhang: Kurzbiografie, Bibliografie, Danksagungen, Glossar, Bildernachweis
Der Autor
Jean Claude Gautrand (1932-2019) galt in Frankreich als einer der herausragenden Experten in Sachen Fotografie. Seit 1960 war er als Fotograf aktiv und machte sich auch als Historiker, Journalist und Kritiker mit zahlreichen Veröffentlichungen einen Namen. Für den Taschen-Verlag verfasste er die Bücher «Brassaï» (2004), «Paris. Porträt einer Stadt» (2011), «Robert Doisneau» (2014) sowie das vorliegende «Eugène Atget. Paris» (2016).
Bibliografie
Jean Claude Gautrand «Eugène Atget – Paris»
624 Seiten mit ca. 500 Abbildungen, Fadenheftung, Hardcover, Schutzumschlag, Format 148 x 35 x 200 mm, Gewicht ca. 1000 g.
Ausgabe: Mehrsprachig (Französisch, Englisch, Deutsch)
Taschen-Verlag. Köln
Preis: CHF 20 / EUR 20,00
ISBN 978-3-8365-2230-4
Das Buch ist im Buchhandel zu kaufen oder direkt beim Verlag zu bestellen.
Wenn man sich die glanzvollen Werke der angewandten und bildenden Künste jener Zeit vor Augen führt, die damals im Zusammenhang mit dem „Genius Loci“ Paris entstanden sind, lässt sich mit diesem Buch erahnen, wie revolutionär und modern die Künste damals waren. Und dass der Glanz (wie kürzlich anlässlich der Olympiade 2024) des heutigen Paris auf einer Kultur beruht, die selbst China mit seinen geklonten Städten niemals fassen kann. https://www.nationalgeographic.de/reise-und-abenteuer/2018/08/als-china-paris-nachbaute