Humoristische Blicke in deutsche Amtsstuben, Einblicke in ein autarkes Leben und verloren auf dem amerikanischen Militärstützpunkt in Ansbach: Mit der Ausstellung «Fünfzehn von S1EB7EHN» präsentieren die Absolvent:innen des 17. Jahrgangs der Berliner Ostkreuzschule für Fotografie ihre Abschlussprojekte. Die 15 Arbeiten setzen sich mit aktuellen politischen, gesellschaftlichen und persönlichen Themen auseinander. Unter den Ausstellenden ist auch eine Schweizerin.
Marina Woodli mit ihrer Arbeit «vier». Ganz rechts, das im Text erwähnte Bild mit ihrem Kind
Das Bild fällt sofort ins Auge: Marina Woodtli hält ihr Kind im Arm. Selbstbewusst und doch verletzlich blickt sie in die Kamera. In ihrer Arbeit «vier» zeigt sie sich in der Ausstellung «Fünfzehn von S1EB7EHN» als Mutter, Frau und Künstlerin. Die Geburt ihrer Kinder hat alles verändert. Mit poetischem Blick tastet sie sich an dieses neue Gefühl heran.. Sie versucht, ihren Alltag mit den vielen magischen Momenten, die sich mit Kindern ergeben, in Bildern festzuhalten. Die Bilder sind mit einer Pentax-Mittelformatkamera aufgenommen. Der Rollfilm verleiht ihren Bildern zusätzliche Wärme und Tiefe.
Marina Woodtli, Fotografin, Kuratorin und Künstlerin, besuchte bereits 2016 die Photobastei in Zürich. Zu diesem Zeitpunkt sah sie die Abschlussarbeiten des Ostkreuzschule-Jahrgangs.
Was sie schon damals angezogen habe, sei die Art und Weise ihres Sehens. Die Schweizerin sagt: «Ich wusste: Ich muss unbedingt an die Ostkreuzschule!» Nun gehört sie zu den Absolvent:innen dieses Jahrganges, der jetzt in der Photobastei ausstellt. Sie studierte Fotografie bei den renommierten Fotograf:innen Sibylle Fendt und Peter Bialobrzeski in Berlin.
Johanna Eckhardt «Ein Zimmer für sich allein» (2023)
«Wir haben eine Geschichte mit Ostkreuz»
Die Vernissage ist gut besucht. Romano Zerbini ist stolz, dass die Photobastei «eine junge, zeitgenössische und hochkarätige Position zeigen kann».
Romano Zerbini – ganz links – im Gespräch mit Ostkreuzschule-Schülern und ihren Dozentinnen
Marina Woodtli sei mit der Idee zu dieser Ausstellung an ihn herangetreten. Die Photobastei habe eine «Geschichte» mit der Fotoagentur Ostkreuz. Er sei oft in Berlin gewesen und habe sich mit Werner und Ute Mahler, Gründungsmitgliedern der bekannten Berliner Fotoagentur, vernetzt. «Beide haben schon Workshops in der Photobastei gegeben».
Die Ostkreuzschule für Fotografie und Gestaltung in Berlin
Die private Schule wurde 2004 von Thomas Sandberg und Werner Mahler in Berlin-Weissensee gegründet. Sie ist Partner der über Deutschland hinaus bekannten Bildagentur Ostkreuz, die 1990 von sieben Fotografen gegründet wurde.
Die Schwerpunkte der Ostkreuzschule liegen in der Schulung des fotografischen Sehens, der Erarbeitung einer eigenen, unverwechselbaren fotografischen Handschrift und des technisch sicheren gestalterischen Umgangs mit dem Medium Fotografie. In der dreieinhalbjährigen Ausbildung werden die Absolvent:innen dieser Fotoschule sowohl in der analogen als auch in der digitalen Fotografie geschult.
Von den über 100 Studierenden kommen mittlerweile viele aus allen Ländern der Welt. Eines der Credos der Ostkreuzschule sei es, wie Thomas Sandberg der Deutschen Welle einmal sagte, «diesen visuellen Sinn, das Gespür für die Zwischentöne, für eine leise Bildsprache zu erhalten und weiter zu entwickeln.»
Die Ausstellung erstreckt sich über mehrere Räume
Die Bilder regen zum Gepräch an
An der Vernissage sind mit Sybille Fendt und Ina Schoennenburg gleich zwei Dozentinnen der Ostkreuzschule anwesend. Letztere sagt in ihrer Begrüssungsrede: «Auf die Zeit in der Ostkreuzschule blicke ich gerne zurück. Wir wurden darin geschult, fotografisch zu sehen, eine eigene Handschrift zu entwickelt und Geschichten zu erzählen.» Sie habe gelernt, genau hinzusehen und sich der Verantwortung zu stellen, die dieses genaue Hinsehen nach sich ziehe
Die beiden Ostkreuz-Schule Dozentinnen Ina Schoennenburg und Sibylle Fendt
Die Absolvent:innen der Ostkreuzschule hätten eigene Zugänge und Haltungen zu ihren Arbeiten gefunden. «Ihr wart Teil von Communities oder seid ihnen nahegekommen. Ihr seid vom Privatesten bis an die Ränder der Gesellschaft gegangen.»
Mirka Pflüger «Kleinod» (2023)
Cecilia Gaeta «Empty Rooms On The Second Floor» (2023)
Massimiliano Corteselli «Contrapasso» (2023)
Nancy Jesse «No Man Is An Island» (2023)
Ausgestiegen und angekommen
Die edel gerahmten Bilder der Ausstellung zeigen das eindrucksvoll. Und: Es braucht viel Zeit, bis sich die Protagonisten dem Fotografen öffnen. Julius Erdmann ist das mit seiner Arbeit «OHM» gelungen. Er steht wie die anderen Absolvent:innen den zahlreich erschienenen Vernissage-Gästen Red und Antwort.
Julius Erdmann «Ohm» (2023)
Im Zentrum seines Projekts steht Oliver. Er und seine Familie entziehen sich der ständigen Beschleunigung der Gesellschaft. Sie ziehen in ein altes Bauernhaus auf einem Hügel mitten im Wald. Eindrucksvolle Bilder zeigen, wie autark sie leben. «Sie haben alte Strukturen verlassen und neue in der Natur entdeckt. Fernab der Grossstadt sind sie nicht ausgestiegen, sondern angekommen», sagt Ina Schoenenburg über die Arbeit von Julius Erdmann. Der Fotograf ergänzt: «Ich habe die Familie über ein Jahr lang immer wieder besucht. In dieser Zeit konnte ich auch beobachten, wie der Borkenkäfer im Fichtenwald wütet».
Lilli Nass «cursare» (2023)
Lost in Ansbach
«Nothing s Solid. Nothing s Permanent» zeigt eine visuelle Betrachtung von Laurens (15) Aufwachsen auf dem US-Armeestützpunkt nahe seiner Heimatstadt Ansbach (D).
Leo Söllner vor seiner Arbeit «Nothings Solid. Nothing is Permanent»
Ganz in der Nähe dieses Ortes ist Leo Söllner aufgewachsen. «Für mich als Kind war es normal, dass Hubschrauber fliegen und Panzer durch die Stadt rollen», sagt der Fotograf, während er den Gast durch seine Ausstellung führt.
Leo Söllner «Nothings Solid Nothing is Permanent» 2023
«Später bei meinem Besuchen fand ich das bei meinem Besuchen nicht mehr normal. Mich hat diese Frage immer mehr interessiert: Was ist hinter diesen grünen Zäunen?» Bei seiner Recherche sei er auf die junge Lauren gestossen. Eines der Bilder zeigt sie in Uniform bei einer Militärparade. Glücklich sieht sie nicht aus. «Sie ist nicht freiwillig hier, denn sie ist die Tochter eines Soldaten, der immer wieder von Armeestützpunkt zu Armeestützpunkt versetzt wird», erklärt Leo Söllner.
Julius Erdmann or seiner Arbeit «Ohm». Er gehört zu den Absolventen des 17. Jahrgangs Ostkreuzschule und ist bereits seit einigen Jahren selbstständiger Fotograf
Während Julius Erdmann bereits seit 2016 als freiberuflicher Fotograf sein Geld verdient, zeigt das Beispiel von Leo Söllner, dass nicht alle Absolvent:innen der Ostkreuzschule später ihren Lebensunterhalt mit der Fotografie bestreiten können – oder wollen. «Es ist schwierig, als selbstständiger Fotograf zu arbeiten. Ich möchte nicht jeden Auftrag annehmen müssen. Deshalb arbeite ich jetzt wieder in meinem alten Beruf als Zimmermann», sagt Leo Söllner.
Jakob Eckstein «Stranger at Home» (2022)
«Stranger at Home“» So heisst die Arbeit von Jakob Eckstein. Der Fotograf wuchs als Kind deutscher Eltern in den USA auf. Was bedeutet es eigentlich, zu Hause zu sein? Was bedeutet es, sich weder mit der einen noch mit der anderen Kultur am meisten zu identifizieren, sondern mit dem fliessenden Dazwischen? Diese Frage zieht sich wie ein roter Faden durch seine Abschlussarbeit. Seine Bilder sind ein Roadtrip durch seine beiden Heimatländer.
Menschlichkeit im System?
Weiter geht es mit den Bildern von Benjamin Sauer. Er beschäftigt sich mit deutschen Behörden. Die grossformatigen Bilder, die Frauen zwischen grauen Computern und steinalt wirkenden Büroakten zeigen, sind im Foyer des Ausstellungsraums zu sehen. «Kann man Spass in der unlustigsten Realität finden? Menschlichkeit im System? Benjamins Bilder fangen da an, wo die Sachlichkeit aufhört», sagt Sybille Fendt über seine Arbeit «Amtszeichen». Er schaut hinter die Türen, in die komischen Ecken und dorthin, wo die Ordnung zu bröckeln beginnt.
Benjamin Sauer: «Ohne Titel» (2023)
Xiaofu Wang «the tower» (2023)
Die Ausstellung
«Fünfzehn von siebzehn» ist eine beeindruckende und sehenswerte Fotoausstellung mit Arbeiten, die intime und gesellschaftspolitische Themen zeigt.
Romano Zerbini zieht zeigt sich zufrieden über die vielen Besucher:innen, die diese Ausstellung schon besucht haben. Wenn die Absolvent:innen der Berliner Ostkreuzschule ihre Bilder zeigen, finden sie immer ein interessiertes Fachpublikum. Was ist das Besondere an ihren Fotografien? Der Leiter der Photobastei schätzt die stets sozial orientierte Reportagefotografie der Berliner Fotoagentur Ostkreuz, die sich auch in den Bildern der Ostkreuzschule-Absolvent:innen wiederfindet: «Sie interessieren sich für die Welt und decken auf. Sie haben manchmal eine melancholische Ader und schauen oft dorthin, wo man nicht hinschauen möchte».
Mit der Ausstellung «Fünfzehn von S1EB7EHN» präsentieren die Absolvent:innen des 17. Jahrgangs der Berliner Ostkreuzschule für Fotografie eine beeindruckende und sehenswerte Fotoausstellung. Ihre sensiblen Fotoarbeiten zeigen gesellschaftspolitische, soziale und persönliche Themen. Sie bestechen immer wieder durch einen aussergewöhnlich tiefen Blick in die Seele der Menschen und Landschaften, die sie besucht haben. Genau dafür steht die Handschrift der Agentur Ostkreuz und die der Ostkreuzschule.
Meret Eberl «NBSW» (2023)
Janick Entremont «If Time Does Not End» (2022)
Details zur Ausstellung
«Fünfzehn von S1EB7EHN»
Die Ausstellung in der Photobastei vom Donnerstag, 9. Januar bis Sonntag, 23. Februar 2025 präsentiert Fotografien der Absolvent:innen der Berliner Ostkreuzschule für Fotografie Berlin!
Abschlussprojekte von den Absolventinnen und Absolventen
Massimiliano Corteselli, Jakob Eckstein, Johanna Eckhardt, Julius Erdmann, Janick Entremont, Meret Eberl, Cecilia Gaeta, Nancy Jesse, Enzo Leclercq, Lilli Nass, Mirka Pflüger, Benjamin Sauer, Leo Söllner, Xiaofu Wang, Marina Woodtli
Text und Situationbilder Vera Rüttimann
Die Fotografin und Journalistin pendelt seit 1990 zwischen Berlin und der Schweiz.
Danke für diese erfrischend ausführliche und differenzierte Ausstellungsbesprechung – das ist selten geworden heutzutage. Sie macht ausgesprochen Lust auf einen Ausstellungsbesuch.